**Tagebucheintrag**
Das Leben hält so manche Überraschung bereit. Was gestern noch undenkbar schien, wird morgen plötzlich Wirklichkeit und verändert alles – die Prioritäten, die Perspektive. Ich, Helga Schmidt, habe meinen Sohn allein großgezogen, nur für ihn. Als er an der Universität aufgenommen wurde, zog ich für die Arbeit nach Portugal. Mein Traum: genug sparen, damit mein Thomas eine eigene Wohnung, ein Auto und einen guten Start ins Leben hat.
Alles verlief nach Plan. Thomas studierte, ich arbeitete. Doch dann kam der Anruf, der mich aus der Bahn warf:
„Mama, ich heirate.“
Ich erstarrte. Nicht vor Freude, nein. Denn der nächste Satz traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel:
„Sie ist sieben Jahre älter als ich. Und hat zwei Kinder.“
Mir war, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Mein Sohn ist zweiundzwanzig! Welche Ehe? Welche fremden Kinder? Sofort sagte ich, dass ich strikt dagegen sei. Doch Thomas blieb hartnäckig:
„Ich bin erwachsen. Ich entscheide selbst, mit wem ich leben will.“
Ich versuchte, ihn zur Vernunft zu bringen:
„Du hast noch keinen Cent selbst verdient! Glaubst du, ich werde dich, sie und ihre Kinder durchfüttern?“
„Mama, du irrst dich. Ich arbeite remote, parallel zum Studium. In ein paar Monaten bin ich fertig. Wir schaffen das.“
„Aber sie hat Kinder! Fremde! Verstehst du nicht, dass das nicht dein Blut ist?“
„Mama, du hast mich allein großgezogen. Ich weiß, wie es ist, ohne Vater aufzuwachsen. Ich kann nicht einfach wegschauen. Ich liebe diese Frau und ihre Kinder. Und ich will für sie da sein.“
Nach diesem Gespräch brauchte ich lange, um mich zu fassen. Einerseits hatte er recht – er ist kein Kind mehr. Andererseits… ist er doch noch so jung. Doch dann erinnerte ich mich: Er war immer verantwortungsbewusst, klug, hat das Leben schon früh verstanden. Vielleicht schafft er es wirklich?
Doch mein Mutterherz gab nicht auf. Beim nächsten Anruf versuchte ich erneut, ihn zu überzeugen:
„Thomas, wieso lebt ihr nicht erst mal zusammen, ohne Trauschein? Ihr könnt später noch heiraten.“
„Mama, wenn du eine Tochter hättest, würdest du ihr dasselbe raten? Weißt du, wer in wilder Ehe lebt? Diejenigen, die keine Verantwortung übernehmen wollen. Praktisch: Wenn’s nicht passt, geht man einfach. So bin ich nicht. Ich will ein Ehemann sein. Eine richtige Familie.“
„Verstehst du überhaupt, wie ich mir immer gewünscht habe, dass ein Mann an meiner Seite steht, der uns hilft? Aber du bist gegangen, Mama, damit ich studieren und ein besseres Leben haben kann. Dafür bin ich dankbar… Aber jetzt ist es meine Entscheidung. Zerstör das nicht.“
Nach diesen Worten packte ich meinen Koffer und flog zurück nach Hause. Ich wollte eingreifen. Verhindern. Doch Freunde rieten unterschiedlich. Monika empfahl, mit der Braut zu sprechen. Claudia hingegen sagte: „Liebe kennt kein Alter.“
Also entschied ich: Ich werde sie treffen.
Als ich anrief, öffnete mir eine Frau mit sanfter Stimme die Tür:
„Guten Tag, ich bin Thomas’ Mutter.“
„Sehr erfreut. Kommen Sie herein. Sie sehen sich ähnlich“, antwortete sie lächelnd.
Die Wohnung war hell und gemütlich, doch ich suchte nach Fehlern. Im Vorratsschrank – kein einziges Einmachglas! Doch dann kam ein etwa siebenjähriger Junge herein. Hellhaarig, mit grünen Augen – genau wie Thomas als Kind.
„Hallo! Ich bin Philipp. Bist du die Oma?“
Ich schenkte ihm ein Set Spielzeugautos. Seine Augen leuchteten:
„Genau das habe ich mir gewünscht! Woher wusstest du das? Du bist eine echte Zauberin!“
Zwei Stunden spielten wir zusammen. Er zeigte mir, wie sich die Türen und Motorhauben öffneten. Ich musste einfach lächeln – er war so ein fröhliches, warmherziges Kind. Später kam seine ältere Schwester von der Schule. Große blaue Augen, eine Schleife im Haar. Sie musterte mich aufmerksam:
„Bist du Thomas’ Mama? Er sagte, ich bekomme eine zweite Oma. Bist du das?“
In diesem Moment begriff ich: Mein Widerstand war sinnlos. Vielleicht hatte ich in diesen Kindern wirklich Enkel gefunden. Und in Lina – keine Rivalin, sondern eine Seelenverwandte. Eine kluge, starke Frau, die alles allein trägt, so wie ich einst. Und Thomas… er hatte sich nicht getäuscht. Er entschied mit dem Herzen. Und ich verstand ihn.
Beim Abschied sagte ich:
„Kommt alle zu mir. Ich freue mich auf euch.“
Ein Jahr später bekamen sie ein gemeinsames Kind. Und Philipp flüsterte mir eines Tages zu„Oma, du liebst mich doch trotzdem noch genauso, oder? Auch wenn das Baby jetzt da ist?“ Ich drückte ihn fest an mich und wusste: Dies ist kein Verlust, sondern ein Geschenk – denn meine Familie ist größer geworden.