Vor einem Monat sprühte jemand auf die Hauswand gegenüber: „Alles wird gut!“

Sie blickte aus dem Fenster. Ihr Vater hatte die Schrift an der Wand schon weggewischt und spülte jetzt mit dem Gartenschlauch die letzten Farbreste weg. Vor etwa einem Monat hatte jemand angefangen, die gegenüberliegende Hauswand nachts mit roter Sprühfarbe zu bemalen: „Alles wird gut!“. Niemand wusste, wer dahintersteckte.

„Wer soll das lesen?“, dachte sie. „Ach, wenn es doch für mich wäre. Vielleicht hat mich dieser große Junge aus der Parallelklasse endlich gefunden…“ – immerhin war es schon ein halbes Jahr her, seit sie nicht mehr zur Schule ging. Er hätte sie längst finden können. Doch dann wurde ihr klar, wie albern diese Träume waren, und Tränen füllten ihre Augen. Lange saß sie da und weinte stumm am Fenster.

Draußen im Hof wickelte ihr Vater den Schlauch auf und fegte danach den verstreuten Müll mit einem Handbesen zusammen. Seit sie aus dem Koma erwacht war, redete sie nicht mehr mit ihm. Sie hatte nach ihrer Mutter gefragt, und als er keine Antwort fand, hatte sie sofort verstanden.

Man hatte ihr erklärt, dass ihr Vater keine Schuld an dem Unfall trug. Er hatte sogar mehr gemacht, als ein Profistuntman getan hätte. Trotzdem gab sie ihm die Schuld. Er war doch ein Mann – er hätte schlimmeres verhindern müssen. Oder wenigstens selbst sterben sollen, damit ihre Mutter überlebt hätte.

Auch er sprach nicht mehr mit ihr. Seit fast drei Monaten sah er sie nur noch schuldbewusst an. Anfangs hatte er es noch versucht – sich erklärt, um Vergebung gebeten, sie angefleht, nur ein Wort zu sagen. Doch dann gab er auf und verbrachte die meiste Zeit bei der Arbeit. Manchmal hinterließ er eine Notiz, dass er bis zum Morgen beschäftigt sei.

Vor Kurzem hatte er erzählt, dass sie bald operiert werden sollte. Er sparte Geld dafür und arbeitete rund um die Uhr. Sogar die Stelle als Hausmeister in ihrem Wohnhaus übernahm er, um schneller den Betrag zusammenzubekommen. Deshalb war es nun seine Aufgabe, diese alberne Schrift gegenüber ihrem Schlafzimmerfenster zu entfernen.

So verging der Frühling. Und dann war der Tag gekommen. Sie verbrachten ihn gemeinsam im Krankenhaus. Gelegentlich warfen sie sich verstohlene Blicke zu und schwiegen. Als man sie zum OP fuhr, lief ihr Vater dem Krankenwagen hinterher, küsste sie auf die Stirn und flüsterte ihr ins Ohr: „Alles wird gut…“

„Alles wird gut… Alles wird gut…“, wiederholte sie immer wieder, als man sie auf den Operationstisch hob und der Anästhesist die Infusion anschloss. Statt rückwärts zu zählen, murmelte sie die Worte wie ein Mantra vor sich hin.

Die Operation verlief erfolgreich. Am nächsten Morgen versicherte der Arzt ihr eine vollständige Rehabilitation. „Bald vergisst du den Rollstuhl und tanzt wieder!“, sagte er, ob ehrlich gemeint oder nur, um sie aufzumuntern. Ihr Vater war die ganze Zeit bei ihr – es schien, als glaube er den Versprechungen des Arztes mehr als sie selbst.

Zur Entlassung bekam sie Krücken, um das Laufen neu zu lernen. Es gab Medikamente, Übungen, Physiotherapie. Zu Hause rollte sie sofort zum Fenster und suchte nach der Schrift. Die Wand war sauber, fast wie frisch gestrichen. Tage vergingen. Der Wechsel zwischen Tabletten und anstrengenden Übungen half.

Langsam konnte sie sich mit den Krücken aufrichten. Dann ging es schneller – bis zur gegenüberliegenden Wand. Ein paar Mal wagte sie es nicht, zum Fenster zu gehen. Was, wenn die Worte wieder verschwunden waren?

Doch eines Nachts überwand sie ihre Angst und humpelte zum Fenster. Die Schrift war da. Die roten Buchstaben versicherten ihr weiterhin: Alles wird gut. Der Sommer verging. Sie konnte schon besser laufen – vom Bett zur Wand, von einer Ecke zur anderen.

Eines Nachts wachte sie durstig auf. Vielleicht von den Tabletten, vielleicht von der spätsommerlichen Hitze. Weil ihr Vater nicht da war, beschloss sie, selbst Wasser zu holen. Ohne Rollstuhl schaffte sie es erstmals seit Monaten in die Küche – und stolperte im Dunkeln über einen großen schwarzen Rucksack. Ihr Vater hatte ihn abends einfach fallen lassen, als er zur Nachtschicht eilte.

Aus der Seitentasche rollten Sprühdosen. Eine war sogar geöffnet, die rote Farbe noch feucht am Deckel. Sie stützte sich an der Wand ab, atmete schwer – und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie verstand. In der Küche saß sie lange und sah zu, wie das Eis aus dem Gefrierfach unter ihren heißen Tränen zu einer salzigen Pfütze zerfloss.

Es dämmerte schon, als sie sich langsam anzog, eine Sprühdose in die Jackentasche steckte und sich mühsam mit den Krücken zur Tür schleppte. Sie kam erst im Morgengrauen zurück und fiel sofort ins Bett.

Als ihr Vater nach Hause kam, schaute er als Erstes bei ihr nach. Auf Zehenspitzen trat er ans Bett und deckte sie behutsam zu. Lange stand er da und betrachtete ihr gereiftes Gesicht. Zuerst glaubte er, es einzubilden – doch dann sah er es wirklich: Etwas hatte sich verändert.

Das frühe Sonnenlicht fiel auf ihr Gesicht, als wäre es ein Gemälde. Die Falte zwischen ihren Brauen war weg. Und ihre Lippen, monatelang verbissen, lächelten jetzt im Schlaf. Er blieb noch einen Moment, bevor er zum Fenster ging, um die Vorhänge zuzuziehen. Unwillkürlich blickte er hinaus – und erstarrte.

Da war sie, diese krumm gemalte Schrift. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Tränen. So lange hatte er auf Worte gewartet – irgendwelche Worte. Und diese hier gaben ihm alles zurück. Die Sonne traf genau die Hauswand gegenüber, auf der in flammendem Rot stand: **„Danke, Papa. Alles gut!“**

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Vor einem Monat sprühte jemand auf die Hauswand gegenüber: „Alles wird gut!“
Der Schmerz der Entdeckung: Als der Junge seinen Stiefvater hasste.