„Alles hinter sich lassen und ans Meer ziehen“
„Michi, könntest du bitte noch schnell einkaufen fahren?“ Die Stimme von Helga Weber zitterte vor Erschöpfung. „Es ist so glatt draußen – ich habe Angst, hinzufallen…“
„Mama, wirklich?“ antwortete Michael gereizt. „Ich komme grad von der Arbeit, bin völlig fertig. Und Lena und ich wollten heute Abend mal Zeit zu zweit verbringen.“
„Michi, ich schaffe es nicht alleine…“ flüsterte sie flehend.
„Mama, ich hab dir tausendmal gesagt: Bestell einfach online! Lern es doch endlich, dann gibt’s keine Probleme!“
„Ich verstehe das nicht, mein Sohn. Könntest du nicht für mich bestellen?“
Ein schweres Seufzen war in der Leitung zu hören.
„Ich bin am Steuer, kann jetzt nicht. Frag doch Sophie.“
„Hab ich… Sie sagte, sie hätte keine Zeit.“
„Na gut“, brummte Michael. „Ich ruf an, wenn ich zu Hause bin. Dann sagst du mir, was du brauchst.“
„Gut, ich warte.“ Doch nach einer Stunde, dann nach zwei – kein Anruf. Sie versuchte es selbst, aber er ging nicht ran. Schließlich half ihr der Nachbar, ein junger Mann namens Jonas, der alles Nötige online bestellte. Als der Lieferant kam und Helga die Einkäufe wegräumte, spürte sie, wie ihr Herz vor Schmerz zusammenzog. Warum nur?
Sie war eine gute Mutter gewesen. Helga hatte zwei Kinder: den älteren Michael und die jüngere Sophie. Ihr Mann war gestorben, als Michael siebzehn und Sophie zwölf war. Seitdem hatte sie sie allein großgezogen. Zwei Jobs, um alles zu finanzieren. Ihre Mutter und Schwiegermutter halfen, doch auch sie waren bald nicht mehr da.
Glücklicherweise hinterließen die Großmütter je eine Wohnung. Die Wohnung ihrer Mutter übertrug sie Michael – er war der Ältere, studierte gerade. Obwohl er schon eigenes Eigentum hatte, unterstützte sie ihn weiter. Als der Großvater starb, ging seine Wohnung an Sophie. Helga bezahlte für beide die Ausbildung, sparte an sich selbst, aber niemals hätte sie den Kindern ihr Erbe genommen. Alles für sie.
Sie war immer für sie da. Fahrten zum Sportverein, Hilfe bei den Hausaufgaben, Nachhilfe fürs Abitur. Sie lebte für sie, ignorierte eigene Bedürfnisse. Und glaubte fest, dass sie im Alter auf sie zählen könnte. Nicht als Bezahlung für ihre Liebe, aber etwas Dankbarkeit – war das zu viel verlangt?
Selten bat sie um Hilfe. Als Michaels Sohn geboren wurde, passte sie stundenlang auf das Enkelkind auf. Sophie ließ bei Geschäftsreisen ihren ungestümen Hund da, der bei jedem Wetter Gassi musste. Helga weigerte sich nie. Doch mit der Zeit wurde klar: Die Kinder schätzten sie nicht. Ihre Fürsorge bestand nur aus leeren Worten.
Als sie renovieren wollte, bat sie um Ratschläge. Michael hatte „keine Zeit“, Sophie winkte ab: „Mama, wirklich nicht jetzt.“ Als Helga im Krankenhaus lag, brachte Jonas die Medikamente. Die Kinder kamen je einmal, warfen einen Blick durch den Raum und verschwanden nach fünf Minuten.
„Mama, du weißt, wie ich Krankenhäuser hasse“, sagte Sophie.
„Das tut hier niemand, Schatz“, antwortete Helga leise.
„Du liegst hier, ich nicht. Werd schnell gesund, wir quatschen später.“
Michael, wie immer, schob Familie vor: „Lena ist erschöpft, ich muss mich um den Kleinen kümmern.“ Dann ging er – ohne Umarmung.
Die Sache heute war der letzte Tropfen. Glatteis bedeckte die Straßen von Freiburg, Helga kam nur mühsam nach Hause. Sie bat die Kinder um eine kleine Bestellung – doch Michael rief nicht zurück, Sophie winkte ab. Tränen brannten, die Leere in ihr wuchs.
Wann hatte sie je für sich selbst gelebt? Nur ein Mal erinnerte sie sich: Als Michael klein und Sophie noch nicht geboren war, musste sie ins Krankenhaus. Danach schickte man sie zur Kur an die Ostsee. Damals gab es keine Handys, niemand rief ständig an. Eine ganze Woche lang atmete sie Seeluft, spazierte am Strand – frei. Ihr Mann rief selten an, jammerte über Alltagsprobleme, nie begreifend, dass sie sonst immer funktionierte.
Nun zog es sie wieder ans Meer. Mit über fünfzig ein neues Leben beginnen? Aber was hielt sie hier? Die undankbaren Kinder waren erwachsen. Brauchten sie Hilfe? Sie selbst bekam keine.
Geld war die Frage. Sie ging durch ihre Dreizimmerwohnung in Freiburgs Innenstadt. Geerbt von ihrem Mann, einst ein angesehener Mann. Nun gehörte sie ihr. Kein schlechtes Gewissen – die Kinder hatten je eine Wohnung von den Großeltern bekommen. Genug.
Am nächsten Tag schien die Idee nicht verrückt – im Gegenteil. Über Bekannte fand sie einen Makler, verkaufte diskret.
Eines Tages bat sie die Kinder zu sich. „Dringend“, sagte sie. Widerwillig kamen sie.
„Bist du krank?“ fragte Michael misstrauisch.
„Nein. Wieso?“
„Warum dann die Eile?“ maulte Sophie.
„Ich muss euch etwas sagen.“
Sie seufzten wie als Kinder, wenn etwas Unbequemes anstand.
„Schieß los, Mama. Ich muss Lena mit dem Kleinen ablösen. Ach, wir bringen den Enkel am Wochenende rüber, okay?“
„Nein, Michael“, sagte Helga ruhig.
„Wieso nicht?“ Sophie wurde unruhig.
„Ich gehe weg.“
„Wohin?“ fragten beide gleichzeitig.
„An die See.“ Ihre Stimme klang träumerisch. „Ein kleines Haus in Niendorf. Ich ziehe dorthin.“
„Mama, das meinst du nicht ernst!“ Michael lachte unglaubwürdig. „Und wovon willst du leben?“
„Ich habe die Wohnung verkauft.“
„Was?!“ Sophie kochte. „Und du fragst nicht mal uns?“
„Hätte ich können, aber ihr wart nie da.“
„Du findest in deinem Alter keinen Job!“
„Ich werde was finden. Das Haus ist klein, das Geld reicht.“
Erst glaubten sie an einen Scherz. Doch als sie merkten, dass es ernst war, hagelte es Vorwürfe.
„Du verschwendest alles!“
„Es ist meins.“
„Wir dachten, die Wohnung würde uns gehören!“ platzte Sophie heraus.
„Nicht mehr.“
„Du bist so weit weg – wir sehen dich nie!“
„Wann habt ihr mich je gesehen? Nur wenn ihr etwas brauchtet.“
Sie schrien, flehten, versprachen Besserung. Aber Helga hörte nicht mehr zu. Die See rief sie, und zum ersten Mal seit Jahrzehnten fühlte sie sich lebendig. Sie wollte glücklich sein – für sich selbst. Die Kinder? Sie würden schon klarkommen. Vielleicht verstanden sie endlich, was sie verloren hatten, als ihre Mutter noch für sie da war.
**Manchmal muss man loslassen, um zu erkennen, was wirklich zählt – vor allem sich selbst.**