Das Gute, das zurückkommt

Karl konnte keine Ruhe finden. Seit vier Tagen saß er am Krankenbett seiner Mathilde, ohne sich zu rühren. Er aß nicht, schlief nicht, lauschte nur ihrem schwachen, stockenden Atem, als fürchte er, er könne jeden Moment verstummen. Draußen vor dem Fenster des verschneiten Dorfes Heidekrug tobte ein Februarmsturm, während in Karls Brust eine immer größer werdende Leere wuchs.

Noch vor zehn Tagen war Mathilde, seine geliebte Frau, voller Leben gewesen. Sie hatte den Haushalt geschmissen, sich auf den Fasching vorbereitet, von Pfannkuchen mit Honig und dem warmen Familienzusammenhalts geträumt. Von ihren bescheidenen Renten konnte man nicht groß leben, aber Mathilde verstand es immer, aus Kleinigkeiten ein Fest zu machen. „Hauptsache, das Haus riecht nach Glück“, hatte Karl gesagt, als er sie umarmte. Doch an einem verhängnisvollen Morgen brach sie wie ein geknickter Zweig bewusstlos zusammen. Im Krankenhaus traf ihn die Diagnose wie ein Schlag – sein Blick verdunkelte sich. Fasching, Pfannkuchen, Gemütlichkeit – alles war vergangen, zermalmt von der Last des Unglücks.

In diesen Tagen schien Karl um Jahrzehnte gealtert. Sein ohnehin graues Haar wirkte jetzt wie Schnee, der sich auf seinem Kopf niedergelassen hatte. Doch der schlimmste Schlag kam, als der Arzt erklärte: Mathilde brauche eine dringende Operation – ohne sie würde sie nicht überleben. Dann nannte er die Summe: unvorstellbar hoch, unmöglich für zwei betagte Rentner.

„Woher sollen wir so viel Geld nehmen?“, flüsterte Karl, als würde der Boden unter ihm wegbrechen. „Mathilde und ich leben bescheiden. Unser Neffe hilft, so gut er kann, aber er hat seine eigenen Sorgen, zwei Kinder…“

Der Arzt zuckte nur mit den Schultern. Das Krankenhaus könne die Kosten nicht übernehmen. Karl stockte der Atem. Ohne Mathilde leben? Unvorstellbar. Er schloss die Augen, und ein dumpfer Schmerz durchdrang seine Brust. Was sollte ein Leben ohne sie, sein Licht?

Sie hatten jung geheiratet, gerade aus der Schule. Fast ein halbes Jahrhundert lebten sie Hand in Hand. Streit gab es selten, und wenn, dann verflog er spätestens beim abendlichen Versöhnen. Kinder hatten sie keine, doch ihre ganze Liebe galt Mathildes Neffen Markus. Er lebte in der Nachbarstadt, kam manchmal mit Frau und Söhnen vorbei. Aber selbst er konnte nicht helfen. Karl spürte, wie die Verzweiflung sein Herz umklammerte.

Die nächste Nacht im Krankenhaus schien kein Ende zu nehmen. Die Schwestern redeten so lange auf Karl ein, bis er schließlich nach Hause fuhr – um zu essen, zu ruhen. Er betrat das leere Haus, in dem noch Mathildes Parfüm hing. Auf der Schwelle stand Nachbarin Gertrud.

„Wie geht’s Mathilde, Karl?“, fragte sie und sah ihn besorgt an.

Karl, gebeugt von der Last, erzählte von ihrem Unglück. Gertrud schlug die Hände vor den Mund.

„Du liebe Güte, was für ein Schicksal! Wir müssen sammeln! Ich geh durchs Dorf, rede mit den Leuten. Vielleicht bekommen wir wenigstens etwas für die Medikamente zusammen.“

Karl winkte nur müde ab. Er glaubte nicht, dass jemand helfen konnte. Gertrud brachte ihm wortlos eine Schüssel heiße Suppe, doch er brachte keinen Bissen hinunter.

Zurück im Krankenhaus erfuhr er, dass Mathildes Zustand sich verschlechtert hatte. Er saß an ihrem Bett, die Fäuste vor Hilflosigkeit geballt. „Lieber Gott, rette sie. Oder nimm mich mit“, flüsterte er und starrte durch das trübe Fenster, hinter dem der Schnee wirbelte. Die Welt wirkte leer, und er fühlte sich einsamer denn je.

„Frau Mathilde hat Besuch“, sagte plötzlich eine Schwester und öffnete die Tür.

Karl fuhr zusammen. Wer konnte das sein? Markus war verreist und hatte erst morgen Zeit. Gertrud? Doch dann betrat eine junge, unbekannte Frau mit warmer, aber trauriger Miene das Zimmer.

„Erkennen Sie mich nicht, Karl?“, fragte sie leise. „Ich bin Lisa, die Tochter von Helene aus dem Haus gegenüber. Erinnern Sie sich?“

Er musterte ihr Gesicht, doch die Erinnerung blieb stumm. Sie fuhr fort:

„Sie haben uns sicher vergessen… Wir waren eine arme Familie. Meine Mutter zog uns fünf Kinder allein groß, nachdem unser Vater gestorben war. Sie und Mathilde haben uns geholfen. Ohne Sie hätten wir nicht überlebt.“

Plötzlich kehrte die Vergangenheit zurück. Karl erinnerte sich an die kinderreiche Familie gegenüber. Nach dem Tod des Vaters, eines Waldarbeiters, war ihr Leben zur Hölle geworden. Die Mutter, Helene, schlug sich mit Hungerlöhnen durch. Karl und Mathilde, selbst nicht reich, teilten mit den Kindern Kuchen, Kleidung. Sie kauften ihnen Stiefel, damit sie im Winter nicht froren, und Bücher, damit sie lernen konnten. Lisa, die Jüngste, war immer die Schüchternste gewesen. Wie konnte er sie vergessen?

„Karl, keine Sorge“, unterbrach Lisa seine Gedanken. „Gertrud erzählte von Ihrer Not. Ich habe die Operation für Mathilde bezahlt. Alles wird gut, glauben Sie mir.“

Karl rang nach Luft.

„Lisa… Wie… Woher so viel Geld? Das ist ein Vermögen…“

„Machen Sie sich keine Sorgen“, erwiderte sie sanft und drückte seine Hand. „Ich lebe seit Jahren in der Schweiz. Mein Mann hat eine Baufirma. Wir kommen einmal im Jahr nach Deutschland, zu Verwandten. Wir können helfen.“

Am nächsten Morgen wurde Mathilde operiert. Der Arzt verkündete, alles sei gut verlaufen, sie werde sich erholen. Karl weinte, ohne seine Tränen zu verbergen. Das Haus würde bald wieder nach Wärme und Glück duften.

Lisa blieb an seiner Seite, brachte Medikamente, kochte, ermutigte ihn. Als Mathilde sich besser fühlte, saßen sie eines Tages im Krankenhaus-Café und wärmten sich an Tee.

„Lisa, wie soll ich dir danken?“, fragte Karl mit zitternder Stimme. „Ohne sie wäre mein Leben nichts. Aber warum hilfst du Fremden?“

„Sie sind nicht fremd“, antwortete Lisa und sah ihm in die Augen. „Sie und Mathilde haben uns gerettet. Ich erinnere mich noch, wie sie mich in der Schule wegen meiner Armut hänselten. Vor meinem Geburtstag hatte ich Angst in die Klasse zu gehen – meine Mutter hatte kein Geld für Süßigkeiten. Die anderen hätten mich fertiggemacht. Aber Sie schenkten mir ein schönes Kleid und eine Schachtel Pralinen. Ich teilte sie mit den Klassenkameraden, und dieser Tag wurde mein schönster. Sie haben mich gerettet.“

„Aber das ist so lange her…“, flüsterte Karl, zutiefst berührt.

„Güte veraltet nicht“, lächelte Lisa. „Sie kommt immer zurück. Und wissen Sie was? Ich lasse Sie jetzt nicht mehr allein.“

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