Tränen am Abend
Helga Schmidt saß auf einer Bank im Krankenhausgarten, ihr Gesicht in einem Taschentuch vergraben. Heute wurde sie achtzig Jahre alt, doch es war ihr bitterster Geburtstag. Weder ihr Sohn noch ihre Tochter hatten angerufen oder waren gekommen. Der Wind wirbelte die welken Blätter umher, und ihr Herz schmerzte vor Einsamkeit.
Ihre Zimmernachbarin, Gertrud Weber, gratulierte ihr und schenkte ihr ein kleines, handgesticktes Tuch. Die Pflegerin Monika brachte ihr einen süßen Apfel und lächelte: „Alles Gute zum Geburtstag, Oma!“ Das Seniorenheim in dem Städtchen Birkenfeld war anständig, doch das Personal blieb, mit wenigen Ausnahmen, distanziert. Alle wussten: Hier landeten Alte, die ihren Familien zur Last fielen. Ihr Sohn Markus hatte sie hierhergebracht – angeblich, um sich „auszuruhen und zu erholen“. Doch Helga verstand: Sie war seiner Frau im Weg gewesen.
Die Wohnung war einst ihre gewesen. Vor Jahren hatte Markus sie überredet, sie auf ihn umschreiben zu lassen. Er hatte versprochen, dass sich nichts ändern würde, dass sie weiterhin daheim leben könne. Doch kaum war der Vertrag unterschrieben, kam alles anders. Markus zog mit seiner Familie bei ihr ein, und die Streitereien mit seiner Frau begannen. Die Schwiegertochter beschwerte sich ständig: das Essen sei nicht gut, die Badewanne schmutzig, sie mache zu viel Lärm. Zunächst nahm Markus sie noch in Schutz, doch bald schimpfte auch er. Helga bemerkte, wie sie hinter ihrem Rücken tuschelten und verstummten, sobald sie den Raum betrat.
Eines Morgens kam Markus auf sie zu: „Mama, du brauchst Erholung, eine kleine Kur.“ Sie sah ihm in die Augen und fragte mit brüchiger Stimme: „Bringst du mich ins Altenheim, mein Junge?“ Er wurde rot, fing an zu stottern: „Aber nein, Mama, es ist ein Sanatorium! Ein paar Wochen, dann bist du wieder zu Hause.“
Er brachte sie ins Heim, unterschrieb schnell die Papiere und verschwand mit dem Versprechen, bald vorbeizukommen. Ein einziges Mal tauchte er auf: brachte ein paar Äpfel und eine Banane, fragte, wie es ihr gehe, und eilte weg, ohne ihre Antwort abzuwarten. So lebte sie hier nun seit zwei Jahren.
Als der Monat verging und Markus nicht zurückkam, rief Helga zu Hause an. Fremde hoben ab. Wie sich herausstellte, hatte ihr Sohn die Wohnung verkauft und war weg. Sie weinte Nächte lang, dann fügte sie sich in ihr Schicksal. Sie wusste: Man würde sie nicht mehr abholen. Am schlimmsten war die Erinnerung daran, wie sie einst ihre Tochter zurückgewiesen hatte.
Helga war in einem Dorf aufgewachsen. Sie heiratete ihren Jugendfreund, Heinrich, und sie lebten in einem geräumigen Haus mit ein paar Tieren. Kein Luxus, aber genug zum Leben. Eines Tages erzählte ein Nachbar Heinrich von guten Jobs und Wohnungen in der Stadt. Heinrich brannte darauf, und so verkauften sie ihr Zuhause und zogen um. Sie bekamen eine Wohnung, kauften Möbel und einen klapprigen Opel. Mit diesem Wagen verunglückte Heinrich – zwei Tage später starb er im Krankenhaus.
Helga blieb mit zwei Kindern zurück. Um sie durchzubringen, putzte sie nachts Treppenhäuser. Sie hoffte, dass die Kinder ihr einmal Halt geben würden. Doch Markus geriet auf die schiefe Bahn – er geriet in schlechte Gesellschaft. Damit er nicht ins Gefängnis musste, nahm sie Kredite auf und zahlte zwei Jahre lang ab. Ihre Tochter, Ingrid, heiratete, bekam einen Jungen. Ein Jahr lang war es gut, dann wurde ihr Enkel krank. Helga kündigte, um mit ihm von Arzt zu Arzt zu laufen. Die Diagnose war schwer zu stellen – eine seltene Krankheit, die nur in einer Spezialklinik behandelt werden konnte, und die Warteliste war lang.
Während Ingrid zwischen Krankenhäusern pendelte, verließ ihr Mann sie, ließ ihr aber die Wohnung. In der Klinik lernte sie einen Witwer kennen, dessen Tochter dasselbe Leiden hatte. Sie fanden Trost inSie zogen zusammen, und als Ingrid Jahre später endlich Heilung für ihren Sohn fand, schickte sie Helga einen Brief – doch er kam nie an, weil Markus ihn heimlich wegwarf, aus Angst, seine Mutter könnte ihm das Erbe streitig machen.