Ich war gegen die Hochzeit meines Sohnes, doch als er nicht mehr war – wurde die, die ich einst eine Fremde nannte, mir näher als eine leibliche Tochter.
Es begann in den wilden Neunzigern, als jeder auf seine Weise lebte, kämpfte, sich durchschlug und in den Trümmern der alten Welt einen neuen Weg suchte. Damals schien vieles gerechtfertigt. Besonders bei meiner Nachbarin Gisela, einer schroffen, herrischen und selbstgewissen Frau.
Gisela hatte drei Kinder von verschiedenen Männern. Der älteste war Timo, dann kam Lars und die jüngste war Annelie. Sie liebte ihre Kinder, doch ihre Liebe war eigenartig: Nicht die Art, die sich in Umarmungen und Zärtlichkeit zeigte, sondern in Befehlen und strengen Blicken. Hilfe bei den Hausaufgaben? Fehlanzeige. Zuneigung? Nur im absoluten Minimum. „Ihr müsst euer Glück selbst machen“, sagte sie, sowohl zu mir als auch zu ihren Kindern. Sie hielt sich für weiser als alle anderen – und wusste natürlich besser, was richtig war.
Als Timo aus der Bundeswehr zurückkehrte, verliebte er sich. Das Mädchen war süß, sanft, doch Gisela mochte sie von Anfang an nicht. „Wenn du Zweifel hast, heirate nicht“, predigte sie ihrem Sohn. „Warte, bis du die Richtige findest.“ Doch Timo liebte sie. Und man sah – es war ernst.
Ich schwieg damals. Ich selbst hatte zwei Töchter. Und als Mutter verstand ich nicht, warum man eine Beziehung aufrechterhält, wenn man nach „etwas Besserem“ sucht. Bei uns im Haus hatte es schon einmal so eine Geschichte gegeben: Ein Junge hatte unsterblich geliebt, doch die Eltern hatten die beiden getrennt. Dreißig Jahre später hatte er seine „Richtige“ immer noch nicht gefunden.
Bei Timo kam es anders – und schlimmer. Er starb. Die Umstände blieben unklar, nicht einmal seine Freunde kamen zur Beerdigung. So plötzlich, so tragisch endete ein junges Leben. Und mit ihm zerplatzten alle Pläne, Träume und Hoffnungen.
Lars, der mittlere Sohn, blieb nicht lange in Giselas Haus. Er zog weg, lebte in einer WG, geriet in schlechte Kreise, schlug einen falschen Weg ein – und starb ebenfalls früh. Übrig blieb nur Annelie, das späte, fast wundersame Kind. Sie war Giselas und ihres Mannes ganzer Stolz. Sie wurde großgezogen, studierte, machte Karriere in Berlin, lebte im Luxus, mit Chauffeur, Pelzmänteln und Reisen. Nur… Kinder blieben aus.
Doch ein Enkelkind bekam Gisela schließlich. Eine Enkelin. Von jenem Mädchen, dem sie einst geraten hatte, Timo nicht zu heiraten. Als sie erfuhr, dass sie schwanger war – schon nach Timos Tod –, flehte sie selbst darum, das Kind zu behalten. Sie half mit Geld, mit Lebensmitteln, gab sogar ihr Auto her – dasselbe, das früher niemand anfassen durfte.
Seitdem hat sich viel geändert. Das Mädchen ist erwachsen, selbst Mutter geworden. Annelie lebt noch immer allein – schön, aber einsam. Die Enkelin ist inzwischen erwachsen, klug und gut. Und mit ihr – ihre Mutter, die einst „Fremde“ – ist heute Giselas engste Vertraute.
Einst hielt sie sie für eine Last, doch heute nennt sie sie „Tochter“. Nach dem Tod ihres Sohnes, nach der Entfremdung von Annelie, fand Gisela plötzlich die Familie, von der sie nie zu träumen gewagt hätte. Sie fahren zusammen aufs Land, feiern Geburtstage, backen Kuchen. Und Gisela sagt oft: „Wenn Timo das sehen könnte…“
Jetzt, mit über siebzig, weiß sie eines ganz genau: Familie liegt nicht im Blut. Familie liegt in der Liebe, in der Fürsorge – und in denen, die bleiben, wenn alle anderen gehen.