Mein 35-jähriger Sohn wohnt immer noch bei mir und hängt mir finanziell am Tropfen. Freunde raten mir, ihn rauszuschmeißen, aber ich bringe es einfach nicht übers Herz.
Ich heiße Sabine Hoffmann und lebe in Bamberg, wo Franken seine gemütlichen Gassen entlang der Regnitz versteckt. Heute Morgen bin ich wieder vor dem Wecker aufgewacht, um das Haus aufzuräumen, während mein Sohn Markus noch schläft. Er ist 35 und lebt seit Ewigkeiten unter meinem Dach. In der Küche türmt sich das schmutzige Geschirr, im Wohnzimmer liegen seine alten Sachen verstreut herum – als ständige Erinnerung daran, dass er hier feststeckt. Als hätte jemand das Leben auf Pause gestellt und den Fernseher laufen lassen. Ich möchte ihm sagen: „Es ist Zeit, dein eigenes Leben zu leben“, aber jedes Mal bleibt mir das Wort im Hals stecken, und mein Herz verkrampft sich vor Angst.
Als Markus klein war, habe ich ihn alleine großgezogen. Mein Mann hat uns verlassen, und ich musste Mutter, Vater und Ernährerin in einem sein. Ich habe mir Sorgen gemacht um jeden Kratzer auf dem Spielplatz, um jede Fünf in der Schule. Ich habe alles getan, damit er sich in unserem Zuhause sicher fühlt. Doch mit den Jahren wurde dieser Schutz zu seinem Käfig. Er ist erwachsen geworden, aber gefühlsmäßig ist er noch immer ein Kind unter meinem Schutz. Ich habe nicht mal gemerkt, wie ich ihn zu einem ewigen Jungen gemacht habe, der darauf wartet, dass Mama alles regelt.
Neulich hat eine Freundin mich gebeten, beim Umräumen alter Möbel zu helfen. Ich habe Markus gefragt: „Schatz, kannst du mir helfen?“ Er hat nur mit den Achseln gezuckt: „Mama, ich hab grad zu tun, vielleicht ein andermal?“ – und ist wieder in seinen Computer vertieft, versunken in endlose Spiele. Dieser Moment war wie ein Spiegelbild unseres Lebens: Ich würde alles für ihn tun, aber er lebt in der Illusion, dass Mama immer einspringt. Meine Freunde sagen alle: „Sabine, es ist dein Haus, deine Regeln! Schmeiß ihn raus – das ist die einzige Lösung, sonst fängt er nie an, selbständig zu sein.“ Ihre Worte tun weh, weil sie recht haben. Aber wenn ich mir vorstelle, wie ich die Tür hinter ihm zumache, wird mir eiskalt. Das ist doch derselbe Junge, der mit aufgeschürften Knien zu mir gelaufen ist, der geweint hat, als er in der Schule gehänselt wurde, der auf mich gewartet hat, damit wir zusammen Abendbrot essen.
Ich merke, wie ich zu einer nörgelnden alten Frau werde. Jeden Morgen murmele ich: „Wieder den Müll nicht rausgebracht, wieder Klamotten überall.“ Der Mutterinstinkt kämpft mit der Müdigkeit, weil ich alles alleine schultern muss. Markus hat keinen festen Job – er jobbt hier und da, aber verliert schnell die Lust. Das Geld, wenn es überhaupt reinkommt, geht für seine Hobbys drauf. Es ist mir peinlich, jeden Cent zweimal umzudrehen, peinlich, dass ich ihm nicht mal bei einer größeren Anschaffung helfen kann. Aber am schlimmsten ist, dass er nicht mal versucht, mir das Leben leichter zu machen.
Vor ein paar Tagen habe ich versucht, mit ihm zu reden. „Markus, wir müssen was ändern“, habe ich mit zitternder Stimme gesagt. „Die Zeit läuft, und du stehst auf der Stelle. Ich bin nicht ewig – was passiert, wenn ich nicht mehr da bin?“ Er hat die Stirn gerunzelt, ist wortlos aufgestanden, hat die Tür geknallt und sich in seinem Zimmer eingeschlossen. Aus dem Gespräch wurde nichts, und in mir blieb das Gefühl, ihn zu verraten – die Liebe zu zerstören, die ich seit seinen ersten Schritten aufgebaut habe. Aber die Gedanken lassen mich nicht los: Vielleicht haben meine Freunde recht? Vielleicht muss ich ihn loslassen, auch wenn es mir das Herz bricht? Andere Frauen in meinem Alter haben längst Enkelkinder, während ich ihm noch Kohlsuppe koche, Hemden bügle und leeren Versprechungen lausche, dass „morgen“ alles anders wird. Dieses „morgen“ zieht sich schon seit Jahren hin, und ohne meinen Schritt wird sich nichts ändern.
Manchmal denke ich, es geht nicht darum, ihn „rauszuschmeißen“, sondern die richtigen Worte zu finden, die in ihm den Wunsch wecken, selbständig zu leben. Aber wie sag ich es, ohne ihn zu verletzen? Er ist sensibel, voller Ängste und Vorwürfe, und vielleicht hat meine übertriebene Fürsorge ihn an dieses Haus gefesselt. Aber ich bin auch nur ein Mensch – ich bin müde, ich will Ruhe, ich will leben, ohne die ewige Verantwortung für einen erwachsenen Sohn. Heute, als ich am Spülbecken stand, hab ich mich daran erinnert, wie der kleine Markus mir geholfen hat, die Einkäufe wegzuräumen. Er war vielleicht fünf, hat sich trotz seiner Ungeschicklichkeit so angestrengt. Damals waren wir ein Team, eine Familie. Jetzt ist er ein schwerer Stein auf meinen Schultern, und ich weiß nicht, wie ich ihn loswerde.
Die Zeit wartet nicht. Ich glaube, dass Markus eines Tages den Mut finden wird, in eine Welt ohne mein Sicherheitsnetz zu treten, in der er auf eigenen Beinen stehen muss. Aber dafür muss ich den Schritt wagen, vor dem ich mich am meisten fürchte. Wie bringe ich diesen Mut auf? Ich weiß es nicht. Aber ich verstehe: Es ist keine Grausamkeit, sondern meine Pflicht – ihm die Chance zu geben, erwachsen zu werden, selbst wenn es uns Tränen und Vorwürfe kostet. Wenn ich es ihm endlich sage, kann ich nicht vorhersagen, was passiert. Vielleicht geht er, knallt die Tür zu und nennt mich eine „Verräterin“. Vielleicht findet er seine Freiheit und sagt Jahre später „Danke“. Aber eines weiß ich sicher: Ich kann diesen Karren nicht mehr endlos weiterziehen. Dieser Gedanke – eine Mischung aus Angst und Erleichterung – hämmert in meiner Brust. Eine Mutterliebe ist nicht nur Behüten, sondern auch der Mut, rechtzeitig zu sagen: „Geh deinen eigenen Weg.“ Und das muss ich tun – für ihn und für mich.