Lehre vom Weisen

„Die Lektion des Alten“

„Der Opa, so nenne ich ihn! Alte Leute kann ich nicht ausstehen! Nutzlos, nehmen nur Platz weg!“ kicherte Jael und strich sich ihre langen schwarzen Haare zurück. „Besonders der da! Immer wenn ich mit Chanel spazieren gehe, starrt er aus dem Fenster. Sitzt dort mit seiner Pfeife und blättert in der Zeitung. Ein Dinosaurier! Zeitungen – in unserer Zeit! Wahrscheinlich kennt er nicht mal das Wort ‚Smartphone‘. Züchtet Veilchen, Geranien. Blumen sind sowieso von gestern. Seine Fenster sind uralt, aus Holz. Bekommt angeblich eine gute Rente, könnte sich Plastikfenster leisten. Ein Geizkragen, verschwendet alles im Suff. Der Opa!“ Sie schnaubte verächtlich.

Jael plauderte mit ihrer Freundin Lina, die bewundernd die frisch renovierte Wohnung musterte. Jael und ihr Mann Tom waren erst kürzlich in dieses Haus im beschaulichen Eichenau gezogen. Sie hatten zwei Wohnungen gekauft und zusammengelegt. Tom betrieb mit seinem Vater eine Tischlerei und zwei kleine Lebensmittelläden. Jael selbst arbeitete nicht – sie pflegte ihr Aussehen und ihre Yorkshire-Terrier-Hündin Chanel, die sie zärtlich „mein Kleines“ nannte. Nachdem sie sich über den Nachbarn lustig gemacht hatte, zog sie Lina weiter, um ihre neuen Kleider zu zeigen.

Man hätte Jael wegen ihrer Respektlosigkeit ermahnen können, doch sie hätte nur genervt die Augen verdreht. Doch das Leben sollte sie eines Besseren belehren. Und zwar so.

Eines Tages wollten Jael und Tom zu ihrem Wochenendhaus fahren. Tom parkte vor dem Haus, telefonierte mit einem Lieferanten. Da rief Jaels Freundin Sina an – sie hatte ein Geschenk aus Mailand dabei. Jael brannte darauf, es sofort abzuholen, zumal Sina im Nachbarhaus wohnte und ebenfalls aufs Land fuhr.

„Tom, fahr schon ohne mich! Ich komme mit Sina nach! Chanel schläft, nimm sie mit!“ rief Jael und stürmte los, ohne eine Antwort abzuwarten.

Tom, in sein Gespräch vertieft, nickte nur. Doch Chanel schlief nicht. Sekunden bevor er die Tür des Autos zuschlug, rutschte die Hündin heraus und blieb am Eingang zurück. Ängstlich und verhätschelt wollte sie Jael nachlaufen, doch die war längst verschwunden. Zitternd drückte sich Chanel ans Treppengeländer.

Bald darauf näherten sich ein paar Betrunkene, die nur eins im Sinn hatten: Geld für die nächste Flasche. Einer von ihnen, genannt „Stift“, grinste hämisch:
„Guckt mal, ’ne teure Töle!“
„Stimmt!“ pflichtete ein anderer bei.
„Machen wir’s … klar. Der Hof ist leer, alle aufm Land, keiner sieht’s“, entschied Stift und trat auf Chanel zu.

Die drei umringten die Hündin. Vor Angst erstarrt, versuchte sie nicht einmal zu fliehen. Stift streckte die Hand aus…

Und im Wochenendhaus brach Panik aus. Jael, tränenüberströmt, rannte verzweifelt umher. Tom durchsuchte das Auto, jeden Winkel – keine Spur von Chanel.
„Sie hat geschlafen, als du losgefahren bist?“ schluchzte Jael, die Tränen mit dem Handrücken wegwischend.
„Ich glaube…“ stammelte Tom verwirrt.
„Was heißt ‚glaube‘? Hast du nicht nachgeschaut?“
„Ich war am Telefon… Sie hat bestimmt geschlafen, aber unterwegs hab ich nicht aufgepasst. Hör mal, was, wenn sie rausgesprungen ist?“

Sie rasten zurück nach Eichenau. Vor dem Haus war Chanel nicht zu sehen. Nur die Hauswartin Gertrud wühlte in den Blumenbeeten.
„Haben Sie…? Unsere Hündin…“, keuchte Jael.
„Die mit dem schicken Fell? Klar. Die wollte Stift mit seinen Kumpels verticken. Ich hab vom Balkon geschrien, sie sollen ablassen, da haben sie mich beschimpft! Aber rausgetraut hab ich mich nicht, die waren sturzbetrunken.“
„Feige! Sie hätten helfen können!“ fauchte Tom.
„Soll ich mich für eure Töle verprügeln lassen? Unser Heinrich hat mehr Mumm. Kaum kann er laufen, aber der ist raus. Drei Mann, und er stellt sich hin, mager wie ein Streichholz, packt euren Hund und sagt: ‚Gib ihn her, versucht’s doch!‘“
„Heinrich? Wer ist das?“ fragte Tom.
„Der unter euch wohnt.“

Jael stürzte ins Treppenhaus. Heinrich – genau der Alte, über den sie sich mit Lina lustig gemacht hatte. Den sie „Opa“ nannte. Hatte dieser gebrechliche Mann wirklich Chanel gerettet? Wie hatte er sich getraut?

Tom klingelte. Die Tür öffnete sich, warme Vanilleduft strömte heraus. Ein kleiner Mann mit verschlissenen Ringelshirt und dicken Socken stand da, zwinkerte wie ein gutmütiger Gartenzwerg.
„Wir… Ich…“, würgte Jael.
„Guten Tag, ihr jungen Leute! Kommt herein! Da schläft sie, eure Prinzessin. Auf dem Sofa, in meiner Decke. Hab ihr Märchen vorgelesen, bis sie eingeschlummert ist. Armes Ding, ganz durcheinander. So ’nen feinen Hund hab ich noch nie gesehen. Wie heißt sie gleich?“
„Chanel“, schluchzte Jael.

Kurz darauf drückte sie die Hündin an sich. Tom stand daneben, finster und wortlos. Die Wohnung war einfach: ein altes Bett mit Metallgestell, ausgeblichene Gardinen, ein Tisch mit Wachstuch. Aber sauber, gemütlich. Auf dem Tisch dampften Apfelkuchen. Heinrich schenkte Tee ein, umsorgte sie wie ein besorgter Großvater.

Tom kam mit ihm ins Gespräch. Heinrich lebte allein, hatte einen Neffen mit schwer krankem Kind. Fast seine ganze Rente gab er ihnen. „Kann ich doch nicht im Stich lassen. Familie ist Familie.“ Er selbst lebte bescheiden, beschwerte sich nie.

Jael saß da, das Gesicht in Chanels Fell vergraben, die Wangen brannten vor Scham. „‚Opa‘ habe ich ihn genannt. Und er gibt alles weg. Hat sich für meinen Hund eingesetzt. Schwach, zerbrechlich – und trotzdem nicht eingeknickt. Ich wäre weggerannt.“

„Kommt vorbei, junge Leute! Ich mag Gesellschaft. Und bringt euren Kleinen mit. Ich leg‘ ihr mein bestes Kissen hin, hat meine Oma noch gestickt“, sagte Heinrich und streichelte Chanel.

Zuhause brach Jael in Tränen aus.
„Was ist denn? Chanel ist doch da!“, wunderte sich Tom.
Sie gestand alles: die Spötteleien, Lina, die Schande. Tom runzelte die Stirn, schwieg aber.

Als Lina das nächste Mal zu Besuch kam und Heinrich im Hof sah, kicherte sie:
„Oh, dein Opa, was?“
„Halt den Mund! Noch ein Wort und du fliegst raus! Verstanden?“, fuhr Jael sie an.

Lina verstummte gekränkt. Jael und Tom hingegen begannen, Heinrich zu helfen. Renovierten seine Wohnung, brachten Essen, nahmen ihn mit ins Wochenendhaus. Chanel liebte ihn abgöttisch, und er nannte sie „meine Enkelkinder“. War verlegen, wenn sie ihm etwas schenkten: „Ach, wozu? Hab doch nichts Besonderes getan.“

Ein einfacher, gutherziger Mann, der Jael zeigte, dass wahre Größe nichts mit Alter zu tun hat.

Оцените статью