Das Geheimnis hinter der geschlossenen Tür: Eine bittere Wahrheit
Der Morgen im Haus lag schwer in der Luft. Lina stand am Spülbecken und spülte Essensreste von den Tellern. Ihre Hände bewegten sich automatisch, während ihre Gedanken sich verwirrten. Von der Terrasse drangen Stimmen herein – ihre Schwiegermutter, Helga Meier, unterhielt sich mit der Nachbarin, Monika Schneider. Ihr Gespräch, sonst voller Tratsch über die Dorfbewohner, klang heute anders – angespannt, mit einem Unterton von Verurteilung.
„Nein, stell dir vor, Monika!“, zitterte die Stimme der Schwiegermutter vor Empörung. „Vier Jahre sind sie jetzt verheiratet, und was? Keine Kinder, kein Fortschritt! Sie arbeitet in diesem kleinen Nähatelier. Ist das alles, wozu sie fähig ist? Dabei könnte sie…“
Lina erstarrte und umklammerte den nassen Teller. „Das geht um mich“, schoss es ihr durch den Kopf wie ein Blitz.
„Helga, nun übertreib doch nicht“, widersprach die Nachbarin sanft. „Das Mädchen gibt sich Mühe…“
„Mühe?“, schnaubte die Schwiegermutter sarkastisch. „Schau dir mal die Sandra an, die Tochter der Bauers – die gibt sich Mühe! Die hat im Mutterschutz ihr eigenes Business aufgebaut, ein Kind bekommen und sieht aus wie ein Model! Aber diese hier…“ Helga machte eine Pause, als würde sie den Moment genießen. „Weißt du, was sie gestern wieder angerichtet hat?“
Lina presste die Zähne zusammen. Gestern hatte sie tatsächlich einen Fehler gemacht – die Buletten waren angebrannt. Normale Buletten, die sie schon hundertmal zubereitet hatte. Aber gestern war sie nicht sie selbst gewesen: Ein weiterer Schwangerschaftstest war negativ ausgefallen, und die Nacht hatte sie in Tränen verbracht.
„Die Buletten ruiniert!“, verkündete die Schwiegermutter triumphierend. „Ich komme rein, und sie sind schwarz wie Kohle! Mein armer Markus hat kein Wort gesagt – alles aufgegessen. So ein braver Junge…“
Lina lächelte bitter. „Markus“ – ihr Mann, ein 36-jähriger Ingenieur im Werk – hatte die Buletten tatsächlich gegessen und sie sogar gelobt. Und danach hatte er sie halbe Nacht getröstet und sich für seine Mutter entschuldigt.
„Ich habe es ihr doch tausendmal gesagt“, fuhr Helga fort. „Habe es ihr beigebracht, gezeigt, wie man kocht. Alles umsonst! Als würde sie es absichtlich falsch machen.“
Linas Hände zitterten. Der Teller entglitt ihr und fiel mit dumpfem Klirren ins Becken. Zum Glück zerbrach er nicht.
„Was war das für ein Lärm?“, erschrak die Nachbarin.
„Ach, das ist nur sie, die wieder Geschirr spült“, winkte Helga ab. „Du solltest hören, wie sie damit poltert – wie in einer Kantine!“
Tränen brannten in Linas Augen. Vier Jahre lang hatte sie versucht, die perfekte Ehefrau und Schwiegertochter zu sein. Sie hatte gekocht, geputzt, im Atelier gearbeitet, sich nach einem Kind gesehnt… Doch als Antwort bekam sie nur Nörgelei und endlose Unzufriedenheit.
„Und weißt du, was das Schlimmste ist?“, flüsterte Helga mit boshafter Stimme. „Gestern habe ich zufällig in ihr Handy geschaut…“
Lina erstarrte. Sie hatte ihrer Freundin von ihren Sorgen erzählt, von den Besuchen bei der Psychologin…
„Sie geht zur Psychologin!“, spuckte Helga es aus wie eine Anklage. „Stell dir vor! Sie hat, oh Wunder, Stress! Dabei hat sie so eine wunderbare Schwiegermutter! Ich in ihrem Alter…“
In diesem Moment brach etwas in Lina. Die Tränen versiegten, das Zittern in ihren Händen legte sich. Langsam trocknete sie ihre Hände ab, griff zum Telefon und wählte eine Nummer.
„Markus? Hallo, Schatz. Wir müssen reden. Ja, jetzt sofort. Es ist wichtig. Ich bin zu Hause.“
Sie legte auf, faltete das Handtuch ordentlich zusammen, prüfte, ob das Wasser zugedreht war, und verließ die Küche. Es war Zeit, ihr Leben zu ändern. Und der Anfang sollte ein ehrliches Gespräch sein – mit ihrem Mann, mit sich selbst, und vielleicht auch mit ihrer Schwiegermutter.
Draußen sammelten sich Wolken, und die ersten Regentropfen klopften gegen die Scheiben, als würde die Natur ihren Schmerz betrauern.
Markus kam eine halbe Stunde später. Lina hatte Zeit gehabt, sich ihr Lieblingskleid anzuziehen, die Haare zu einem ordentlichen Dutt zu binden und sich sogar leicht die Lippen zu schminken – mit dem Lippenstift, den sie für besondere Anlässe aufbewahrte. Heute war ein solcher Anlass.
Die Tür knallte, und im Flur waren eilige Schritte zu hören.
„Lina?“, Markus‘ Stimme klang besorgt. „Was ist passiert?“
Sie trat ihm entgegen – ruhig, gefasst, mit erhobenem Kopf. Markus erstarrte, ohne die Jacke auszuziehen, und in seinen Augen spiegelte sich Verwirrung.
„Wir müssen reden“, sagte Lina. „Über uns. Über deine Mutter. Über alles.“
Markus hing langsam seine Jacke an den Haken.
„Ist etwas mit Mutter?“
„Nein“, schüttelte sie den Kopf. „Ihr geht es gut. Sie sitzt gerade auf der Terrasse, trinkt Tee mit Monika Schneider und erzählt ihr, was für eine versagende Schwiegertochter ich bin.“
Markus erbleichte.
„Was…?“
„Setz dich“, wies Lina auf das Sofa. „Das wird ein langes Gespräch.“
Sie erzählte alles. Von dem belauschten Gespräch, von den ständigen Sticheleien, davon, wie ihre Schwiegermutter in ihren Nachrichten herumschnüffelte. Von ihren Versuchen, es Helga recht zu machen, von dem erschöpfenden Wettlauf um das Bild der „perfekten Ehefrau“, von den Besuchen bei der Psychologin. Davon, wie müde sie war, so zu tun, als wäre alles in Ordnung.
Markus schwieg und starrte auf den Boden.
„Warum hast du nichts gesagt?“, fragte er schließlich.
„Ich hatte Angst“, gab Lina ehrlich zu. „Angst, dass du Partei für deine Mutter ergreifst. Dass du sagst, ich übertreibe oder mir alles einbilde. Dass ich undankbar bin und ihre ‚Fürsorge‘ nicht zu schätzen weiß.“
„Fürsorge?“, lachte Markus bitter. „Das ist keine Fürsorge. Das ist…“ – er stockte, nach Worten suchend.
„Manipulation“, half Lina ihm. „So nennt es meine Psychologin.“
„Du gehst zur Psychologin?“, Markus hob überrascht den Blick.
„Seit vier Monaten. Seit ich Panikattacken habe.“
Er drehte sich abrupt zu ihr um:
„Panikattacken? Warum habe ich davon nichts gewusst?“
„Weil du es nicht bemerkt hast“, sagte sie leise. „Du warst mit der Arbeit beschäftigt. Und damit, keinen Streit mit deiner Mutter anzufangen.“
Markus stand auf, lief im Zimmer auf und ab und rieb sich die Schläfen.
In diesem Moment knallte erneut die Tür, und Helgas Stimme drang ins Haus:
„Markus? Bist du da? Warum steht das Auto so schief?“
Lina spannte sich an, doch Markus legte ihr eine Hand auf die Schulter:
„Ich kümmere mich darum.“
Helga stürmte ins Wohnzimmer und richtete ihr Kopftuch.
„Sohn, bist du etwa von der Arbeit weggelaufen? Was ist los?“ – und ohne Pause: „Lina, warum ist das Geschirr noch nicht fertig? Da liegt noch eine Pfanne!“
„Mutter“, Markus‘ Stimme klang ungewo“Und während die Schneeflocken leise vor dem Fenster tanzten, spürte Lina zum ersten Mal seit Jahren, wie sich etwas in ihr löste – die Last der Erwartungen, die sie nicht länger tragen musste.“