**Schatten der Täuschung: Ein Familiendrama**
Lukas schaute zum dritten Mal in zehn Minuten auf die Uhr. Halb zehn. Leonie, seine Frau, war wieder einmal spät dran von der Arbeit. In letzter Zeit war das zur Norm geworden: endlose Projekte, Kundentermine, knappe Deadlines. Er rührte langsam in seinem kalten Tee, während er aus dem Fenster ihrer Wohnung im beschaulichen Bad Aibling hinausblickte. Draußen blinkten die Lichter eines Wohnviertels, während in seinem Kopf beunruhigende Gedanken kreisten.
Etwas hatte sich verändert. Unfassbar, aber spürbar. Leonie hinterließ keine Zettelchen mehr am Kühlschrank mit verspielten Smileys. Sie schickte keine lustigen Nachrichten mehr vom Büro aus. Sie erzählte nicht mehr, wie ihr Chef wieder die Unterlagen verwechselt hatte. Ihr Familienleben, einst warm und vertraut, begann Risse zu zeigen.
Das Telefon vibrierte. Eine Nachricht: *“Lukas, muss wieder länger bleiben. Wichtige Präsentation. Iss ohne mich.“* Er antwortete nicht, legte das Handy nur beiseite. Aus Lenas Zimmer drang leise Musik – seine Tochter machte Hausaufgaben. Er stand auf und ging zu ihr.
*“Wie läuft’s mit Mathe?“*, fragte er, an den Türpfosten gelehnt.
Lena hob den Kopf. Ihre Augen, ihm so vertraut, verrieten einen inneren Kampf.
*“Fast fertig, Papa. Ist Mama wieder auf der Arbeit?“*
*“Ja, wichtiges Projekt“*, sagte er möglichst gleichmütig, doch seine Stimme verriet ihn.
Lena legte den Stift beiseite und sah ihn ernst an.
*“Papa, ich muss dir etwas sagen.“*
*“Ein Geheimnis?“*, versuchte er zu lächeln, doch sein Herz zog sich zusammen.
*“Es war eigentlich ein Geheimnis zwischen Mama und mir“*, zögerte Lena, ihre Finger spielten nervös mit dem Heftrand. *“Heute, auf dem Heimweg von der Schule, habe ich Mama gesehen. In dem Café am Marktplatz. Sie war mit einem Mann. Sie haben sich… umarmt. Und sich angesehen… so, wie ihr euch schon lange nicht mehr anschaut.“*
Lukas spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. All die Puzzleteile – die späten Abende, die ausweichenden Antworten, die Kälte in ihrer Stimme – fügten sich zu einem schrecklichen Bild zusammen. Er legte Lena die Hand auf die Schulter, bemüht, sein Zittern zu verbergen.
*“Danke, dass du es mir erzählt hast, Lena. Geh schlafen, morgen ist Schule.“*
Im Flur blieb er vor den Familienfotos stehen. Da waren sie vor drei Jahren am Chiemsee – Lena plantschte im Wasser, Leonie lachte, und er fotografierte sie, glücklich. Sechzehn Jahre Ehe. Gemeinsame Frühstücke, Urlaube, Zukunftspläne – alles schien jetzt wie eine Fata Morgana.
Am nächsten Tag nahm er sich frei – zum ersten Mal seit Jahren. Er parkte in einer Seitenstraße nahe Leonies Büro, wo sie ihn nicht sehen konnte. Um halb zwei kam sie raus – im schicken grauen Kostüm, makellos frisiert. Doch statt zur Bushaltestelle ging sie zu einem schwarzen SUV am Straßenrand. Der Fahrer – ein gepflegter Mann im teuren Anzug, mit selbstbewusstem Lächeln – öffnete ihr die Tür. Sie lachten, plauderten. Dann beugte sich Leonie zu ihm. Der Kuss wirkte endlos, wie in Zeitlupe.
Lukas umklammerte das Lenkrad, bis die Knöchel weiß wurden. Der Wagen fuhr davon, und er saß da, keuchend vor Schmerz, als hätte ihn jemand in die Magengrube getroffen.
Als Leonie nach Hause kam, war es längst Mitternacht. Müde ließ sie die Schuhe fallen, doch in ihren Augen glomm ein ungewohntes Feuer.
*“Anstrengender Tag?“*, fragte Lukas, bemüht, ruhig zu klingen.
*“Ja, das Projekt zehrt an den Nerven“*, antwortete sie und öffnete den Kühlschrank. *“Warum bist du noch wach?“*
*“Wir müssen reden.“*
Leonie erstarrte, fing sich aber schnell.
*“Worüber?“*
*“Über deinen ‚Kollegen‘ mit dem schwarzen SUV.“*
Sie erstarrte, schloss langsam die Kühlschranktür.
*“Ich verstehe nicht.“*
*“Wirklich?“*, seine Stimme bebte vor unterdrückter Wut. *“Ich habe euch heute gesehen. Und Lena dich gestern im Café.“*
Leonie drehte sich zu ihm, ihr Gesicht wirkte plötzlich fremd, hart.
*“Na und? Ja, ich habe eine Affäre. Ich habe mich verliebt. Passiert, wenn der Mann zur Einrichtung wird.“*
Die Worte trafen ihn wie ein Messer.
*“Einrichtung?“*, er lachte bitter. *“Derjenige, der sechzehn Jahre die Familie zusammengehalten hat? Der euch an die Ostsee gefahren ist, das Wochenendhaus gebaut, deine Schulden beglichen hat? Der da war, während du Karriere gemacht hast?“*
*“Genau das!“*, sie wurde lauter. *“Du bist immer so korrekt, so vorhersehbar! Keine Leidenschaft, kein Feuer. Alles nach Plan, alles im Terminkalender. Ich will leben, nicht nur existieren!“*
Sie stritten bis zum Morgengrauen. Leonie rechtfertigte sich, warf ihm Langeweile und Gleichgültigkeit vor. Lukas spürte, wie ihre Welt zerbrach, in Trümmern einstigen Glücks.
Am nächsten Tag rief seine Schwiegermutter, Gertrud. Wie sie es erfahren hatte – ein Rätsel. Doch ihre Stimme klang wie immer süßlich-bevormundend.
*“Lukas, mach keine Dummheiten“*, begann sie. *“Leonie hat mir alles erzählt. Passiert doch mal. Die Familie muss zusammenhalten.“*
*“Gertrud“*, antwortete er kühl, *“wenn Ihr Mann Sie betrogen hätte, würden Sie das auch sagen?“*
Stille in der Leitung.
*“Das ist was anderes“*, presste sie schließlich hervor. *“Leonie ist verwirrt, hat eine Krise. Sei weise, habe Geduld.“*
*“Kommen Sie Sonntag zum Essen“*, unterbrach er. *“Wir besprechen alles.“*
Das Sonntagsessen wurde zur Schlacht. Sein Schwiegervater, Heinrich, ging sofort in die Offensive:
*“Lukas, du musst Leonie vergeben.“*
*“Muss?“*, er legte die Gabel beiseite. *“Wem schulde ich was?“*
*“Der Familie!“*, rief Gertrud. *“Denk an Lena!“*
*“Haben Sie an Lena gedacht?“*, meldete sich seine Tochter leise. Alle verstummten. *“Mama hat Papa betrogen. Mich belogen. Nennt sich das ‚an das Kind denken‘?“*
Leonie sprang auf:
*“Lena, halt den Mund! Du verstehst das nicht!“*
*“Nein, du verstehst es nicht!“*, Lena stand auch auf, Tränen in den Augen. *“Du hast alles kaputtgemacht! Papa war immer für uns da, und du… du…“*
Sie rannte raus. Lukas folgte ihr.
*“Tja, da hätten wir’s.“*
*“Lukas, warte!“*, Leonie packte seinen Arm. *“Lass uns von vorn anfangen. Ich breche mit Markus, ich schwöre!“*
Er befreite sanft seinen Arm.
*“Weißt du, was das Schlimmste ist? Nicht der Betrug. Sondern, wie leichtfertig du gelogen hast. Mir in die Augen geschaut, von der Arbeit erzählt, mich nach ihm geküsst.“*
*“Junge“*, mischte Heinrich sich ein, *“jeder macht Fehler.“*
*“Ja. Und ich habe mich geirrt, als ich dachte, sechzehn Jahre Ehe zählen etwas.“*
Eine Woche später reichte LukasUnd während draußen die ersten Schneeflocken des Winters fielen, schloss Lukas seine Tochter in die Arme und wusste, dass sie gemeinsam alles schaffen würden.