In einem alten Haus am Rande von Dortmund, wo der Wind durch die Ritzen der Holzfenster pfiff, hielt die älteste Tochter Lydia das Zepter in der Hand. Mit fünfunddreißig Jahren hatte sie immer noch keinen Mann gefunden – sei es wegen ihres bissigen Wesens oder ihrer überzogenen Ansprüche. Lydia war zum Schrecken aller Männer geworden, scharfsinnig und mit einem Blick, der jedem das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Die Zugereiste!“, fauchte sie wie ein Brandmal, als es um die Schwiegertochter ging. Ihre jüngere Schwester Katja, rundlich und immer zum Lachen bereit, kicherte zustimmend. Die Mutter, Anna Friederike, schwieg, aber ihr strenger Gesichtsausdruck sprach Bände: Auch ihr war die neue Familienzugehörige nicht recht. Wie konnte man sie auch mögen? Der einzige Sohn, die Hoffnung der Familie, kam aus dem Wehrdienst nicht allein zurück – er brachte eine Frau mit. Und die hatte weder Familie noch Herkunft, nicht einen Cent in der Tasche. Ob Waise oder Heimatlose – niemand wusste es genau. Der Sohn, Jakob, wischte alles weg: „Mach dir keine Sorgen, Mutti, wir schaffen das schon!“ Aber wie redet man mit so einem Dickkopf? Wen hatte er da ins Haus geschleppt? Vielleicht eine Diebin oder Betrügerin? Gab’s doch heutzutage wie Sand am Meer!
Seit diese „Zugereiste“ die Schwelle betreten hatte, fand Anna Friederike keinen Schlaf mehr. Sie döste nur noch halbwach, immer auf der Hut: Vielleicht durchwühlt die Schwiegertochter die Truhen oder klaut das Familiensilber. Die Töchter hetzten weiter: „Mutti, versteck die Wertsachen bei Verwandten! Pelze, Gold – alles weg, sonst wachen wir auf und alles ist verschwunden!“ Jakob quälten sie seit Wochen: „Wo hattest du deine Augen? Weder Fisch noch Fleisch! Wen hast du da in die Familie gebracht?“
Doch was blieb ihnen übrig? Das Leben ging weiter. Sie lebten – und setzten die Schwiegertochter zugleich an ihren Platz. Anna Friederikes Hof war solide: ein großer Gemüsegarten, fünf Schweine im Stall, Hühner und Enten ohne Zahl. Arbeit gab es genug – selbst rund um die Uhr schaffte man nie alles. Die „Zugereiste“, die den Namen Nadine trug, beklagte sich nicht. Sie jätete Beete, fütterte das Vieh, kochte, putzte und versuchte, der Schwiegermutter zu gefallen. Doch ein Mutterherz täuscht man nicht: Egal wie sehr sie sich bemühte, es war nie richtig, nie gut genug. Am ersten Tag schon sagte Anna Friederike verbittert:
„Nenn mich beim Namen. Das ist angemessener. Meine Töchter habe ich, und du wirst, wie man’s auch dreht, nie eine davon sein.“
Von da an nannte Nadine sie Anna Friederike, während die Schwiegermutter Nadine einfach gar nicht ansprach. Musste sie etwas sagen, hieß es nur: „Mach dies, mach das.“ Punkt. Man durfte ihr ja nicht nachgeben! Die Schwestern Lydia und Katja ließen keine Gelegenheit aus, jeden Fehler Nadines zu besprechen, jede Kleinigkeit aufzubauschen. Manchmal ermahnte die Mutter sie – nicht aus Mitleid, sondern für den Hausfrieden. Streit brauchte sie nicht. Und heimlich, wenn auch nie ausgesprochen, bemerkte Anna Friederike, dass Nadine fleißig war, keine Faulenzerin. Langsam taute ihr Herz.
Vielleicht hätte sich alles mit der Zeit gebessert, doch Jakob begann herumzutreiben. Welcher Mann erträgt es, wenn ihm von morgens bis abends gesagt wird: „Wen hast du denn geheiratet?!“ Dann vermittelte Lydia ihm eine Bekannte, und es ging los. Die Schwestern jubelten: Jetzt würde die „Zugereiste“ verschwinden! Anna Friederike schwieg, während Nadine wie ein Schatten durchs Haus schlich, abgemagert, mit traurigen Augen. Doch dann kam es wie ein Blitz aus heiterem Himmel: Nadine erwartete ein Kind, und Jakob wollte sich scheiden lassen.
„Das kommt nicht!“, schnitt Anna Friederike ihm das Wort ab. „Ich habe sie dir nicht ausgesucht, aber wenn du sie heiratest, dann bleib! Hör auf herumzulungern. Bald wirst du Vater. Zerstörst du die Familie, werfe ich dich raus und will nichts mehr von dir wissen. Nadine bleibt hier.“
Zum ersten Mal nannte Anna Friederike Nadine beim Namen. Lydia und Katja erstarrten. Jakob rebellierte: „Ich bin ein Mann, ich entscheide!“ Doch die Mutter lachte nur, die Hände in die Hüften gestemmt: „Was für ein Mann? Du bist bloß ein Hosenanzug! Erst wenn du ein Kind großziehst, es aufrichtest – dann kannst du dich Mann nennen!“
Anna Friederike hatte immer die richtigen Worte, doch Jakob war ebenso stur wie sie. Er packte seine Sachen und ging. Nadine blieb. Sie gebar pünktlich ein Mädchen und nannte es Anni – nach der Schwiegermutter. Anna Friederike sagte nichts, aber in ihren Augen blitzte Freude auf. Im Haus blieb alles beim Alten, nur Jakob kam nicht mehr, verbittert. Die Mutter litt, doch sie zeigte es nicht. Die Enkelin liebte sie abgöttisch: verwöhnte sie, kaufte Süßigkeiten, schenkte Spielzeug. Nadine aber verzieh sie nie ganz, dass der Sohn deswegen gegangen war. Doch sie machte ihr keine Vorwürfe.
Zehn Jahre vergingen. Lydia und Katja heirateten, und im großen Haus blieben nur drei: Anna Friederike, Nadine und Anni. Jakob heuerte im Norden an, heiratete dort, trennte sich aber bald. Nadine jedoch umwarb ein Mann – ein ehemaliger Offizier, Michael, ernst, älter als sie. Nach seiner Scheine hatte er die Wohnung der Ex-Frau überlassen, lebte im Wohnheim, hatte aber Arbeit und Rente – ein solider Heiratskandidat. Nadine mochte ihn, doch wieDoch Anna Friederike, die längst erkannt hatte, wer wirklich Familie war, öffnete ihnen die Tür und flüsterte: „Bleibt hier – denn Zuhause ist, wo man geliebt wird.“