In der engen Küche eines Landhauses im abgelegenen Dorf Waldeichen, das in den Wäldern Bayerns verschwindet, tobte ein Streit. »Warum sollen wir noch einen Mund mehr stopfen?«, schrie Anna und schwenkte eine Pfanne mit zischenden Kartoffeln, bereit, nach ihrem Mann zu schlagen. Michael senkte den Kopf und hielt sein Telefon fest. Gerade hatte er die Nachricht erhalten: Seine Schwester war verstorben und hatte ihren zehnjährigen Sohn Stefan ohne Zuhause und Familie zurückgelassen.
»Anna, bitte. Er ist doch noch ein Kind. Er kann im Haushalt helfen, und den Jungs wird’s mit ihm Spaß machen«, sagte Michael leise und fast flehend, während er einen Schritt auf sie zuging. Doch Anna funkelte ihn wütend an und zischte: »Wir sind hier schon zu fünft in dieser Bruchbude! Wir schlafen mit den Kindern in einem Raum, und jetzt soll ich auch noch deinen Neffen ertragen? Schick ihn ins Heim oder such seinen Vater! Der ist abgehauen, und wir sollen den Schlamassel ausbaden?«
»Meine Eltern werden nicht zulassen, dass Stefan ins Heim kommt«, antwortete Michael kaum hörbar und warf einen Blick zur Tür, als fürchte er, die Großeltern könnten ihn hören. »Ich hab ihnen noch nichts von Larissa erzählt. Sie werden uns noch in den Wahnsinn treiben, aber sie bringen den Jungen trotzdem hierher.« Anna presste die Zähne zusammen und atmete schwer, um ihre Wut zu zügeln. »Ich kümmere mich nicht um ihn!«, fauchte sie und drehte sich zurück zum Herd. Michael nickte schweigend.
»Warum hast du so viel Krempel?«, murrte Michael, während er Stefans Sachen in den rostigen Kofferraum seines alten Golfs stopfte, mit dem er zwei Stunden lang in die Stadt gefahren war. Der Junge blickte finster zur Seite und schwieg. Erst als Michaels Hand grob nach dem Geigenkasten griff, sagte Stefan leise, aber bestimmt: »Vorsicht, sie ist empfindlich.« Michael stutzte: »Hat Larissa dir das wirklich eingebrockt, einem Jungen Geige beizubringen? Besser wär’s, sie hätte dich zum Ringen geschickt! Kein Wunder, dass du so dünn bist, als hättest du nie genug zu essen gehabt. Eine Geige, wirklich!« Stefan sagte nichts. Seine Mutter Larissa hatte ihm beigebracht: Hör auf dich, nicht auf die Worte anderer.
Larissa war eine seltene Seele – hell, sanft, mit einem Lächeln, das auch in den dunkelsten Tagen nie erlosch. Sie kämpfte dafür, dass ihr Sohn alles hatte, was er brauchte, trotz des kargen Lebens. »Bist du bereit fürs Dorf?«, fragte Michael. Stefan war nicht bereit. Erst vor einer Woche hatte er seine Mutter verloren. Larissa war lange krank gewesen, lag im Krankenhaus, während er bei der Nachbarin lebte. Man ließ ihn nicht zu ihr, sie rief an, versprach, alles würde gut. Dann blieben die Anrufe aus. Die Nachbarin, mit Tränen in den Augen, erzählte: »Dieses verdammte Virus hat unsere Larissa mitgenommen.« Stefan weinte heimlich, während er sich an Mamas Worte erinnerte: Zeige keine Schwäche vor Fremden, vertraue nur den Deinen.
Zwei Stunden Fahrt vergingen wie im Flug. Stefan fürchtete sich vor dem neuen Leben, und Michaels Nörgeln ließ ihn nicht los. »Ein Tag Pause, dann geht’s zum Heumachen. Sommer ist’s, meine Jungs arbeiten ab fünf Uhr früh. Wird dich ablenken. Arbeit ist die beste Medizin.« Stefan nickte gedankenverloren, während er den Geigenkasten umklammerte, den Michael ihm gegeben hatte, damit er im Kofferraum nicht zerbrach.
Als er das Haus sah – ein windschiefer, einstöckiger Bau mit trüben Fenstern –, erschauderte Stefan. Er hatte Oma und Opa noch nie besucht. Larissa hatte den Kontakt abgebrochen, und jetzt verstand er langsam warum. »Komm, ich zeig dir dein Zimmer«, knurrte Michael. Stefan folgte seinem Onkel, die Geige fest an sich gedrückt. In dem winzigen Raum standen zwei Betten. Als er seine Sachen auf eines legen wollte, stürmten zwei braungebrannte Jungen in Shorts herein.
»Das ist mein Bett!«, brüllte einer und warf Stefans Sachen auf den Boden. »Du schläfst im Flur oder verzieh dich zurück in die Stadt!«, fügte der zweite mit einer Narbe unter dem Auge hinzu. Michael kratzte sich am Hinterkopf: »Hab vergessen zu sagen, wir stellen dir eine Klappbank hin. Das sind die Betten von Tim und Alex.« Stefan musterte das von schmutziger Wäsche überladene Zimmer – hier würde keine Klappbank hineinpassen. Aber er hatte keine Wahl. Er quetschte sich auf das knarrende Feldbett, doch einschlafen konnte er nicht: Michael schnarchte hinter der Wand, und die Jungs atmeten laut, gewohnt an den Lärm.
Stefan ging nach draußen, setzte sich auf einen Baumstamm am Fluss und holte ein zerknittertes Foto seiner Mutter hervor. Ihre blauen Augen strahlten Wärme aus. Tränen liefen über seine Wangen. »He, Kleiner, was heulst du denn?«, fragte eine Stimme. Ein stämmiger Mann setzte sich neben ihn. »Nichts«, murmelte Stefan und wischte sich die Tränen ab. »Na, wenn’s nichts ist, dann ist’s gut. Ich hör nachts gern der Natur zu«, sagte der Mann und lächelte. »Ich bin Erich.« – »Stefan.« Sie schüttelten sich die Hand. Erich erzählte von Fröschen und Grillen, riet ihm, schlafen zu gehen, und verschwand. Überraschenderweise schlief Stefan schnell ein.
Um fünf Uhr morgens erwachte das Haus: Löffel klapperten, die Jungs trampelten über das Feldbett und stürmten in die Küche. »Steffi, komm essen, sonst fressen sie dir alles weg!«, rief Michael. Anna, amStefan blickte zu Erich auf, nahm seine Hand und spürte zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter, dass er nicht allein war, während die Morgensonne über Waldeichen aufging und eine neue Zukunft versprach.