**Tagebucheintrag – Ein Herbstabend, der alles veränderte**
An diesem grauen Oktoberabend wurde mein Leben auf den Kopf gestellt. Wie immer kam ich müde von der Arbeit nach Hause – voller Gedanken an Einkäufe, unerledigte Dinge und den morgigen Tag. Plötzlich rief jemand meinen Namen. Als ich mich umdrehte, stand eine junge Frau vor mir, daneben ein etwa sechsjähriger Junge. Sie trat näher und sagte ruhig: „Anna Schmidt, ich bin Marlene, und das hier ist Ihr Enkel, Leon. Er ist schon sechs.“
Mir wurde schwarz vor Augen. Diese Frau, dieses Kind – ich hatte sie noch nie gesehen. Ich starrte sie an, unfähig zu begreifen, ob das ein Scherz war. Doch Marlenes Stimme war ernst, ohne jede Spur von Ironie. Instinktiv suchte ich nach versteckten Kameras, einem üblen Streich – doch da war nichts. Alles war echt.
Mein einziger Sohn ist Stefan. Ein gut aussehender, selbstbewusster Mann mit einer sicheren Position in einer großen Frankfurter Firma. Ihn habe ich mein Leben lang unterstützt. Sein Vater verließ uns, als Stefan zwei war. Seither schuftete ich – tagsüber in der Apotheke, nachts als Reinigungskraft in Büros. Alles, um ihm eine Ausbildung, ein gutes Leben zu ermöglichen. Ich habe nicht gelebt – ich habe überlebt. Kein Urlaub, immer nur Kartoffeln mit Butter, dieselben Stiefel fünf Winter lang. Er war mein ganzer Stolz.
Jetzt ist er zweiunddreißig, unverhebt, aber Frauen gab es immer genug. Er wechselte sie wie Socken. Ich wartete sehnsüchtig: Irgendwann würde er die Richtige finden, mir endlich einen Grund zur Freude geben – nicht nur wegen seiner Karriere, sondern weil ich Oma werden könnte.
Und dann – das. Diese Frau, die behauptete, mein Enkel stehe neben ihr. „Ich wollte es Ihnen eigentlich nicht sagen“, flüsterte Marlene, „aber Leon gehört zu Ihrer Familie. Ich verlange nichts von Ihnen. Hier ist meine Nummer. Rufen Sie an, wenn Sie ihn kennenlernen möchten.“
Sie gingen, und ich blieb zurück, als hätte die Erde mich verschluckt. Zu Hause rief ich sofort Stefan an. Erst verstand er nicht, wovon ich sprach, dann gab er widerwillig zu: Ja, vor Jahren hatte er eine Beziehung mit einer Marlene. Etwa ein Jahr, vielleicht weniger. Sie hatte von einer Schwangerschaft gesprochen, doch er hatte es ignoriert. „Wer weiß, ob das Kind überhaupt von dir ist?“, hatte er gesagt. Danach verschwand sie, und er suchte nicht einmal nach ihr.
Seine Worte schnürten mir die Kehle zu. Er redete von möglichen Lügen, dass sie alles erfunden haben könnte. Doch in meinem Kopf hallte Marlenes ruhige Stimme nach, und das Gesicht des Jungen ließ mich nicht los – als hätte ich es schon einmal gesehen.
Ich rief Marlene an. Sie hob sofort ab. Keine Vorwürfe, nur diese leise, entschlossene Stimme. Leon sei im April geboren, die Trennung von Stefan im Herbst davor gewesen. Ein Vaterschaftstest? Unnötig – sie wisse, wer der Vater wäre. Ihre Familie unterstützte sie, sie arbeitete selbst, alles war geregelt. Leon ging jetzt in die erste Klasse. „Wenn Sie Teil seines Lebens sein möchten – gern. Wenn nicht – ich verstehe das. Ich kam nicht wegen Geld oder Hilfe. Ich dachte nur, Sie sollten es wissen.“
Ich legte auf. Die Stille in der Wohnung dröhnte in mir. Tausend Fragen überschlugen sich. Ist er wirklich mein Enkel? Soll ich Marlene glauben? Oder Stefan? Und was, wenn mein Herz sich bereits nach diesem Jungen sehnt – nach seinen Augen, seiner Stimme?
Zwei Wochen sind vergangen. Jeden Tag nehme ich den Zettel mit ihrer Nummer – und wage nicht, sie anzurufen. Was, wenn ich eine Chance verpasse, die das Schicksal mir gibt? Was, wenn er wirklich mein Enkel ist? Doch wenn alles nur eine Lüge wäre? Was ist schlimmer – betrogen zu werden oder den Rest meines Lebens ohne ihn zu verbringen, ohne zu wissen, ob er mein Blut ist…