Geheime Begegnung auf dem alten Friedhof

Im kalten Herbstmorgen machten sich Lina und ihre Cousine Katharina auf den Weg zu einem verlassenen Friedhof am Rande von Lebstedt, um die Gräber ihrer Angehörigen zu besuchen. Nebelschwaden woben sich zwischen den alten Grabsteinen, und das Krächzen der Raben verlieh der Stimmung eine düstere Mystik. Die Schwestern betraten eine kleine Holzkirche, in der es nach Wachs und Weihrauch roch. Sie zündeten Kerzen für die Verstorbenen an, und Katharina, mit einem tiefen Seufzer, schrieb zum ersten Mal eine Gebetsnotiz für ihre Großmutter Barbara. Dann gingen sie zu den Gräbern ihrer Eltern, entfernten welke Blätter, wischten die Grabsteine ab und stellten bescheidene Chrysanthemensträuße in Glasvasen.

„Na dann, Katja, sollen wir nach dem Grab deiner Großmutter Barbara suchen?“, schlug Lina vor und zog ihren Schal fester um sich.

„Gehen wir“, antwortete Katharina leise, während ihr Herz sich in einer seltsamen Ahnung zusammenzog.

Sie wanderten zwischen den alten Gräbern umher, wo Moos die Inschriften verdeckte und die Bäume sich unter der Last der Zeit bogen. Schließlich blieb Lina vor einem schlichten Grabstein stehen.

„Hier ist sie, Katja! Barbara Petrowna“, sagte Lina und wischte das Foto auf dem Stein sauber. „Schau, hier hat schon jemand aufgeräumt. Seltsam, nicht?“

„Guten Tag, seid ihr für Barbara Petrowna hier?“, ertönte plötzlich eine tiefe Männerstimme.

Lina fuhr herum und erstarrte. Ihre Augen weiteten sich vor Schock, und ihre Gedanken wirbelten: „Das kann nicht sein!“

„Und ihr hattet doch diesen großen Garten“, fuhr der Mann fort, als bemerkte er ihre Verblüffung nicht. „Deine Großmutter ließ uns immer rein. Die Himbeeren waren süß wie Honig, die Kirschen riesig, und es gab weiße Himbeeren – so was hatte sonst niemand! Und die Erbsen hingen in langen Schoten. Barbara Petrowna gab allen Kindern etwas, sie durften pflücken. Dann kamst du, Katja, und kurz darauf war deine Großmutter nicht mehr. Wollt ihr Tee?“

Lina blickte verwundert zu ihrer Schwester, die stumm wie versteinert dastand.

„Katja, was ist?“, fragte sie und schenkte Tee in die Tassen.

„Alles gut, gieß nur ein“, erwiderte Katharina, doch ihre Stimme zitterte.

Nach dem Tod ihres Mannes hatte Katharina sich ihrer Cousine mehr angenähert. Ihre Tochter lebte mit ihrer eigenen Familie, und so fehlte ihr die Wärme der Verwandten. Über ihre Großmutter Barbara, die Mutter ihres Vaters, wusste sie fast nichts. Das Haus, in dem sie geboren wurde, erinnerte sie nur vage – sie waren aus der alten Lehmhütte umgezogen, als Katharina noch keine fünf war. Ihre Mutter, Anna, mochte dieses Haus nicht und hatte ihrer Schwiegermutter nie verziehen, dass diese sich eine Enkeltochter nicht gewünscht hatte.

„Deine Großmutter, Barbara Petrowna, war gutherzig“, fuhr Lina fort und nippte am Tee. „Dein Vater, Johann, war ihr Jüngster, sie liebte ihn sehr. Die älteren Geschwister – Bruder und Schwester – waren früh ausgezogen, hatten eigene Familien gegründet. Manche waren zum Arbeiten nach Westeuropa gegangen, andere lebten weit weg. Ihre Enkel sah Barbara Petrowna kaum. Aber Johann blieb immer bei ihr.“

Barbara Petrowna hatte anfangs nicht gewollt, dass er heiratete. Sie sagte, er sei schwach, und wozu brauche er eine Familie, wenn das Leben doch auseinanderreiße? „Leb für dich selbst, mein Sohn“, beharrte sie. Und Johann strebte auch nicht nach einer Ehe – wohl, weil er sein Schicksal noch nicht gefunden hatte. Doch dann, als er fast vierzig war, traf er deine Mutter, Anna. Sie besuchte ihre Schwester, und Johann verliebte sich auf den ersten Blick. Anna war zierlich, elegant wie ein Mädchen, obwohl sie schon über fünfunddreißig war.

Zu aller Überraschung stimmte Barbara Petrowna dieser Heirat zu. Vielleicht war sie schon müde geworden und sah ein, dass Johann bald allein dastehen würde. Sie dachte, eine Frau würde sich um ihn und auch um sie kümmern. Doch Kinder, sagte sie, seien nun zu spät. Aber es kam anders. Anna brachte bald dich zur Welt, Katja. Ihr Glück war unbeschreiblich, und Johann schien zu verjüngen. Er war Vater geworden, wovon er wohl nicht mehr zu träumen gewagt hatte.

Doch dann erkrankte Barbara Petrowna. Johann kümmerte sich nun nur noch um seine Frau und das Kind, nicht mehr um die Mutter. Anna sorgte sich ebenfalls weniger um die Schwiegermutter. Schade, Katja, dass es so kam. Barbara Petrowna hatte sich im Alter verändert, war enttäuscht von ihren Kindern, von den Enkeln. Als sie starb, war sie sehr unglücklich. Alter und Schwäche hatten ihr Übriges getan…

„Danke, Lina, dass du mir das erzählt hast“, sagte Katharina leise. „Über den Garten, über Großmutter. Vater ist lange fort, und Mutter wollte nie über sie sprechen. Ich habe nur verschwommene Erinnerungen an das Haus. Ich war ja noch so klein. Erinnerst du dich an die Geschichte mit dem Fass?“

„Natürlich!“, grinste Lina. „Ich habe mich damals so um dich gesorgt. Ich und die Nachbarskinder – Alex und Sabine – sahen einen Frosch im Fass. Du warst noch zu klein, um hineinzuschauen. Du warst drei, ich acht. Ich hob dich hoch, um ihn zu zeigen. Aber ich hatte dich nicht fest genug, und – plumps! – fielst du ins Fass. Zum Glück war Benji da, der Enkel von Oma Martha. Er zog dich raus.“

„Ja, wirklich eine tolle Schwester!“, lachte Katharina. „Benji erinnere ich. Er tröstete mich, während ich heulte. Aber nicht aus Angst. Ich hatte diese alberne grüne Mütze mit Bändern unter dem Kinn. Ich hasste sie. Und Benji – schon ein großer Junge – schaukelte mich. Ich schämte mich so vor ihm in dieser Mütze, noch dazu nass! Den Frosch habe ich übrigens nie gesehen.“

„Katja, lass uns zum Friedhof fahren, zu unseren Eltern“, schlug Lina vor. „Bald ist Totensonntag. Und da liegt auch deine Großmutter Barbara begraben. Warst du jemals dort?“

„Nein“, antwortete Katharina. „Vater starb früh, ich war noch ein Kind. Und Mutter wollte nie über Barbara Petrowna reden. Ich hörte nur, wie sie sagte: ‚Gott sei Dank sind wir aus diesem kalten Haus weg, wo es im Winter eisig und im Sommer feucht war.'“

„Schade, dass es so endete“, seufzte Lina. „Hätten sich versöhnen können. Also, fahren wir, Katja?“

Am Totensonntag machten sich Lina und Katharina früh auf den Weg. Zuerst gingen sie in die Kirche, zündeten Kerzen an und schrieben Gebetszettel. Katharina hinterließ zum ersten Mal einen für Barbara Petrowna. Dann säuberten sie die Gräber ihrer Eltern, wischten die Steine ab und stellten frische Blumen in Vasen.

„Na dann, Katja, suchen wir Barbara Petrownas Grab?“, sagte Lina. „Das ist wohl im alten Teil, sie ist schon lange tot, über fünfzig Jahre.“

„Gehen wir, Lina. Ich habe schon mit Mama und Papa gesprochen, als ich aufräumte. Ich sagte, ich wolle Omas Grab finden und beten, dass alle sich versöhnen, dass die Verbitterung vergeht.“

„Gehen wir. Dort, schau, die alten Steine, alles von Bäumen überwuchert. Da, Jahrgang 1965, 1967… Moment, ist das nicht Oma Marthas Grab?“

„Weiß nicht, Lina, ich erinnere mich kaum an sie“, erwiderte Katharina. „AberUnd als der Wind die Blätter der alten Apfelbäume rauschen ließ, wusste Katharina, dass die Vergangenheit endlich Ruhe gefunden hatte.

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Schatten des Zweifels