Ein kalter Morgen in der kleinen Stadt Bad Tölz begrüßte Lukas mit grauem Himmel und leichtem Frost. Er machte sich hastig fertig für die Arbeit, als seine Mutter, Helga Schneider, ihn plötzlich anhielt:
„Mein Sohn, du musst deinen Bruder finden. Jetzt braucht er seine Familie mehr denn je.“
Lukas erstarrte, sein Gesicht verfinsterte sich. Jahre angestauter Zorn brach hervor:
„Mama, nach allem, was er getan hat? Ernsthaft?“
„Er ist dein Bruder“, antwortete Helga mit fester Stimme, die vor unterdrückter Emotion zitterte.
„Und mein Sohn. Ja, er ist gestrauchelt. Aber ich liebe ihn genauso wie dich. Nur auf eine andere Weise.“
Lukas sah in ihre müden Augen, erfüllt von Hoffnung und Schmerz. Schweigend umarmte er sie und spürte, wie ihre zerbrechlichen Schultern bebten.
„Ich werde ihn finden“, flüsterte er. „Das verspreche ich.“
Der Abend in ihrer engen Wohnung war ungewöhnlich still. Helga saß in ihrem alten Sessel, eingehüllt in eine Decke, als es an der Tür klingelte. Schwiegertochter Marlene ging öffnen. Helga blickte zur Tür und erstarrte – sie konnte ihren Augen nicht trauen.
„Du verstehst es nicht, sie braucht professionelle Pflege!“ Dominiks Stimme klang scharf, fast grob.
„Im Seniorenheim gibt es Ärzte, Pfleger, alles, was sie braucht!“
„Du verstehst es nicht!“ Marlene, sonst so zurückhaltend, erhob zum ersten Mal die Stimme gegen ihren Schwager.
„Das ist deine Mutter! Wie kannst du nur daran denken, sie Fremden anzuvertrauen?“
Lukas schwieg und starrte aus dem Fenster auf den verschneiten Hof. Vor dreißig Jahren hatten er und sein Bruder ihre Mutter hierher gebracht – die junge Deutschlehrerin, deren Unterricht alle Schüler liebten. Damals waren sie stolz, wenn Klassenkameraden flüsterten: „Frau Schneider ist die Beste!“ Und jetzt saßen sie in der Küche und entschieden über ihr Schicksal, als wäre sie keine Person, sondern eine Last.
Im Nebenraum tat Helga so, als läse sie, aber jedes Wort schnitt ihr ins Herz. Fünfzig Jahre hatte sie der Schule, den Kindern, ihren Söhnen gegeben. Und jetzt stritten sie, ohne zu bemerken, wie sie sich an die letzten Reste ihrer Würde klammerte.
Alles begann, als ihr Vater starb. Hans Schneider war plötzlich gegangen – ein Herzinfarkt in der Fabrik. Er war erst zweiundvierzig. Lukas war elf, Dominik acht. Helga erinnerte sich, wie sie sich im Badezimmer eingeschlossen hatte, das Wasser laufen ließ, um ihr Schluchzen zu übertönen. Und am Morgen, mit steinernem Gesicht, ihre Söhne für die Schule fertigmachte.
Schwere Zeiten folgten. Sie arbeitete sich auf: unterrichtete an zwei Schulen, gab abends Nachhilfe. Kollegen flehten sie: „Helga, du fällst vor Müdigkeit um! Mach mal Pause!“ Doch sie schüttelte nur den Kopf: „Die Kinder sollen es besser haben.“ Sie verkaufte die Ohrringe, die ihr Mann ihr geschenkt hatte, um Lukas einen Computer für die Schule zu kaufen. Die letzten Ersparnisse gingen für Dominiks Fußballausrüstung – er träumte von einer Karriere als Profi. Für sich selbst kaufte sie nur im Schlussverkauf, und das selten.
Im Lehrerzimmer tuschelten sie: „Sie schont sich überhaupt nicht. Trägt abgetragene Kleidung, isst irgendwas.“ Doch Helga hörte nicht hin. Hauptsache, die Söhne. Sie würden groß werden, auf eigenen Beinen stehen, dann könnte sie an sich denken.
Die Brüder entwickelten sich unterschiedlich. Lukas, ernst und besonnen, glich dem Vater. Er studierte Physik, entdeckte sein Talent für Informatik. Nach Vorlesungen jobbte er als Kurier, um seiner Mutter zu helfen. Sie weinte, als sie es erfuhr: „Lern, mein Junge, das ist wichtiger!“ Doch er blieb stur: „Du hast dein ganzes Leben für uns gegeben. Ich will helfen.“
Dominik war anders – lebhaft, impulsiv. In der Schule mittelmäßig, auf dem Fußballfeld jedoch ein Star. Der Trainer prophezeite: „Der Junge wird es weit bringen!“ Dominik träumte von Ruhm, Reichtum, einem schönen Leben. Helga war manchmal besorgt: „Sohn, Geld ist nicht alles.“ Er winkte ab: „Wenn ich reich bin, Mama, kauf ich dir alles!“
Dann kam der Schicksalsschlag. Bei einem wichtigen Spiel zog Dominik sich eine Knieverletzung zu. Die Ärzte waren klar: „Vergiss den Profifußball.“ Er zog sich zurück, verließ wochenlang sein Zimmer nicht. Helga verkaufte die Uhr ihres Mannes, um Nachhilfelehrer zu bezahlen. Dominik begann ein BWL-Studium, wo er Claudia traf – die verzogene Tochter eines Großunternehmers. Er verliebte sich blind, war bereit, alles für sie zu tun. Doch Claudia, als sie von seiner „einfachen“ Familie hörte, lachte nur verächtlich:
„Eine Lehrerwohnung? Das soll ein Witz sein?“
Ihr Vater, Friedrich Bauer, erkannte Dominiks Potenzial. Er bot ihm einen Job in seiner Firma an – unter einer Bedingung: „Keine Verbindungen zur Vergangenheit. Deine Mutter und diese Plattenbauwohnung – das ist nicht unser Niveau.“ Dominik willigte ein. Er kam kaum noch nach Hause, schickte nur hin und wieder Geld. Auf Anrufe antwortete er knapp: „Keine Zeit, Mama.“ Helga weinte in stillen Nächten, beschwerte sich aber nie.
Lukas wählte einen anderen Weg. Im zweiten Semester begegnete er Marlene, einer sanften Medizinstudentin. Sie heirateten kurz nach dem Abschluss, mieteten eine winzige Wohnung. Marlene wurde für Helga wie eine Tochter – half im Haushalt, kochte, und als ihr Sohn Tim geboren wurde, passte die Schwiegermutter stundenlang auf ihn auf. „Was würden wir ohne dich tun, Mama?“, sagte Marlene oft.
Dominiks Hochzeit war anders – pompös, mit Hunderten Gästen und Prominenten. Helga, in ihrem einzigen guten Kleid, fühlte sich fehl am Platz im Glanz des Reichtums. Claudia würdigte sie kaum eines Blickes, und Dominik sprach den ganzen Abend kein Wort mit ihr. Nach der Hochzeit ging es steil bergauf: Der Schwiegervater vertraute ihm große Deals an, übergab ihm Projektleitungen. Dominik kaufte eine Villa, teure Autos, sein Name tauchte in Zeitungen auf: „Junger Business-Wunderknabe“.
Helga unterrichtete weiter. Kollegen wunderten sich: „Dein Sohn ist Millionär – wozu brauchst du diesen Job?“ Sie antwortete: „Meine Schüler sind mein Reichtum.“ Lukas und seine Familie lebten zur Miete, sparten auf eine Eigentumswohnung. Dominik wechselte Villen und Luxusresorts, schickte seiner Mutter Geld per Kurier – ohne einen persönlichen Gruß.
Die ersten Anzeichen der Krankheit kamen unmerklich. Zitternde Hände, Schwäche in den Beinen. Helga dachte, es sei die Müdigkeit. Doch die Symptome verschlimmerten sich. Die Diagnose traf sie wie ein Urteil: „Fortschreitende Erkrankung. Dauerhafte Pflege nötig. Alleinleben unmöglich.“
Die Brüder stritten. Lukas wollte seine Mutter zu sich nehmen. Dominik bestand auf dem Seniorenheim: „Dort sind Profis, ich bezahle.“ Marlene war empört: „Das ist deine Mutter! Wie kannst du?“ Dominik winkte ab: „Ich tue, was ich kann. Ich schieße Geld zu – was willst du mehr?“
Er wusste nicht, dass er bald selbst alles verlieren würde. Das Imperium des Schwiegervaters brach zusammen: Betrug, Steuerhinterziehung, Verhaftungen. Friedrich Bauer wurde direkt aus dem Büro abgeführt. Claudia reichte die Scheidung ein: „Ich werde nicht mit einemUnd als der erste Schnee des Winters vor dem Fenster fiel, spürte Helga zum ersten Mal seit langem, dass ihre Familie endlich wieder ganz war.