Das Geheimnis hinter dem alten Foto

**Das Geheimnis auf dem alten Foto**

Ein ruhiger, kalter Abend in der kleinen Stadt Eichenfeld. Anneliese kam nach dem Trauergottesdienst nach Hause – neun Tage war es her, seit ihre Mutter gestorben war. Erschöpft ließ sie sich auf dem Küchenstuhl nieder und starrte leer vor sich hin. „Mama, wie soll ich jetzt ohne dich weiterleben?“ Die Trauer schnürte ihr die Brust zu, als würde ein Teil ihrer Seele mit ihr gegangen sein.

Um sich abzulenken, beschloss sie, die Sachen ihrer Mutter durchzugehen. Auf einem wackeligen Stuhl stehend, griff sie nach dem Oberbord, wo Tücher und Kleidung lagerten. Zwischen den sorgfältig gefalteten Stücken stieß sie auf etwas Hartes: ein Foto, versteckt unter einem Stapel Schals.

„Was ist das?“ Anneliese nahm es vorsichtig und stieg herunter. Beim Licht der Tischlampe betrachtete sie das Bild – und ihr Herz stockte. Darauf war ihre strahlend junge Mutter zu sehen, ein Baby im Arm. Daneben stand ein fremder Mann, groß, dunkelhaarig, mit einem sanften Lächeln. Anneliese fühlte, wie ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.

„Papa, du verschweigst mir etwas.“ Sie blickte ihrem Vater direkt in die Augen, bemüht, ihre Stimme ruhig zu halten. „Wer ist dieser Mann neben Mama auf dem Foto?“

Ihr Vater, Heinrich Bauer, runzelte die Stirn. Sein Gesicht wirkte plötzlich hart, fast fremd. „Das geht dich nichts an“, fuhr er sie an. „Und stell keine dummen Fragen.“

„Nichts angeht?“ Anneliese schüttelte den Kopf, ihre Stimme brach. „Wie kann das nichts angehen? Das ist meine Mutter!“ Sie warf das Foto auf den Tisch. Auf dem Bild, das am Fluss aufgenommen worden war, strahlte ihre Mutter, Anna, das Baby im Arm. Neben ihr stand der Fremde, sein Blick voller Zärtlichkeit.

„Wenn es mich nichts angeht, dann bin ich vielleicht gar nicht eure Tochter?“ Anneliese deutete auf das Baby. „Habt ihr mich adoptiert?“

„Red keinen Unsinn!“ Heinrichs Gesicht lief rot an.

Anneliese wartete auf eine Erklärung, aber ihr Vater presste die Lippen zusammen. Sie wusste: Wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war kein Wort mehr aus ihm herauszubekommen. Doch sie würde nicht aufgeben. Sie und ihr Vater lebten in verschiedenen Teilen der Stadt und sahen sich selten. Wann würde sie sonst noch die Wahrheit erfahren?

„Mama hat das Foto versteckt. Also ist da etwas Wichtiges dahinter“, sagte Anneliese leise, ohne den Blick zu senken.

Heinrich seufzte schwer, aber sein Gesicht blieb undurchdringlich. Offenbar würde er bis zum Ende schweigen.

„Papa, ich will keinen Streit. Sag mir einfach, wer das ist. Ich bin fast fünfzig – ich habe ein Recht, die Wahrheit über meine Familie zu wissen!“

„Lass das!“, knurrte er. „Das ist Vergangenheit. Die soll man ruhen lassen.“

„Also ist es noch schlimmer, als ich dachte“, flüsterte Anneliese und spürte, wie sich Entschlossenheit in ihr regte.

Sie verließ sein Haus, doch der Gedanke an das Geheimnis des Fotos ließ sie nicht los. Sie war fest entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.

Die Wahrheit herauszufinden erwies sich als schwierig. Anneliese rief alle Verwandten in Eichenfeld an, doch niemand wusste etwas. Ihr Vater schwieg stur, und sein Schweigen wirkte bedrohlicher von Tag zu Tag. Als sie kurz davor war aufzugeben, riet ihr ihre Cousine zu Tante Margarete, der ältesten Verwandten, die in einem Dorf in der Nähe lebte. Anneliese rief sie an und machte sich am Wochenende auf den Weg.

Tante Margarete empfing sie herzlich. Nach langem Teetrinken und Erzählungen über die Familie zeigte Anneliese ihr das Foto.

„Tante Margarete, bitte helft mir“, bat sie leise.

Die alte Dame nahm das Bild, und Tränen traten ihr in die Augen. „Anna…“, flüsterte sie und bekreuzigte sich. „Gott hab sie selig.“

„Bin ich das auf Mamas Arm?“, fragte Anneliese vorsichtig.

„Natürlich“, lächelte Margarete. „Du warst ihr ein und alles.“

„Und wer ist der Mann neben ihr? Das ist nicht Papa.“

Tante Margarete seufzte, ihr Blick wurde fern. Anneliese spürte, wie ihr Herz schneller schlug.

„Wer ist das?“, fragte sie sanft, aber bestimmt. „Er sieht keinem von uns ähnlich. Ein entfernter Verwandter?“

Die alte Dame schwieg, als kämpfte sie mit sich. Schließlich brach es aus Anneliese heraus:

„Was ist hier los? Habt ihr euch mit Papa abgesprochen? Hat er euch zum Schweigen gebracht?“

Margarete schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Anneliese entschied sich, nicht nachzugeben.

„Ihr kennt diesen Mann offensichtlich“, sagte sie ruhig. „Bitte, sagt mir wenigstens etwas!“

Plötzlich kam ihr ein Gedanke, und sie fügte hinzu: „Oder steckt etwas Schlimmes dahinter?“

„Nichts Schlimmes, Annelie“, antwortete Margarete nach einer Pause. „Aber ich habe Anna versprochen zu schweigen. Doch nun, da sie nicht mehr ist… Gut.“

Sie schenkte Tee ein und begann zu erzählen.

Anna war noch Schülerin, als sie Karl traf. Ein charmanter, intelligenter Student, der ihr Herz im Sturm eroberte. Ihre Romanze war leidenschaftlich, und alle dachten, eine Hochzeit stünde bevor. Doch dann kam alles anders.

Anna erfuhr, dass sie ein Kind erwartete. Sie erzählte es Karl, überzeugt, er würde sie heiraten. Doch er…

„Hat abgelehnt, richtig?“ Anneliese‘ Stimme klang bitter.

Tante Margarete nickte. „Er hatte Angst“, fuhr sie fort. „Wollte sein Studium nicht aufgeben, keine Verantwortung übernehmen.“

„Verstehe“, seufzte Anneliese, während Groll in ihr aufstieg.

„Er kam zu Anna, schimpfte“, Margaretes Stimme wurde schwer. „Sagte, es wäre ihre Schuld. Aber Gott möge ihn richten.“

„Und er… lebt er noch?“

„Karl? Ja, er lebt“, antwortete Margarete. „Und wohnt wohl immer noch in Eichenfeld.“

„Warum ist er dann auf dem Foto?“ Anneliese konnte den Blick nicht von dem Bild lösen.

„Wir haben ihn überredet“, lächelte Margarete. „Er wollte nicht, aber wir bestanden darauf.“

Sie schwieg kurz und erzählte dann, wie Anna Heinrich begegnete – den Mann, den Anneliese ihr Leben lang für ihren Vater gehalten hatte.

Heinrich war der ältere Bruder von Annas Freundin Leni. Als Annas Eltern sie nach der Schwangerschaft verstießen, nahmen Margarete und ihre Mutter sie auf. Eines Tages kamen Leni und Heinrich mit Geschenken und einem Kinderbett vorbei.

„Danach kam Heinrich oft“, fuhr Margarete fort. „Zuerst half er Anna, und als sie mit Karl Schluss machte, heiratete er sie.“

„Und Mama willigte ein“, ergänzte Anneliese.

„Was hätte sie tun sollen? Heinrich hatte Arbeit, konnte für euch sorgen. Wohin wäre sie sonst gegangen?“

Anneliese nickte und betrachtete Karl auf dem Foto. In ihr kämpften widersprüchliche Gefühle.

„Wie hat er reagiert, als Mama heiratete?“

„Er war wütend“, antwortete Margarete. „Belästigte sie. Aber Heinrich hielt ihn fern – und das war auch gut so! Liebe ist das eine, Verantwortung das andere.“

Sie tätschelte Annelieses Hand. „Alles hat sich zum Guten gewendet, Annelie. Gott sei Dank!“

Zuhause grübelte Anneliese weiter. Das Geheimnis war gelüftet – doch Ruhe fand sie nicht.Anneliese stand am Fenster, spürte den letzten Atemzug ihres Vaters Karl in der Klinik und wusste plötzlich, dass Vergebung leichter war, als sie gedacht hatte.

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«Ein tiefer Verrat: Der Bruch zwischen Mutter und Sohn»