**Ein geheimer Anruf, der alles veränderte**
An einem trüben Herbstmorgen bereitete sich Stefan auf einen Ausflug mit Freunden in die Natur vor. Der Wald vor den Toren der Stadt lockte mit seiner Stille und dem Duft von Nadelbäumen – die Aussicht auf eine erholsame Pause. Gerade als er seinen Rucksack packte, klingelte plötzlich sein Telefon. Ohne auf den Bildschirm zu schauen, nahm er ab, in der Erwartung, einen vertrauten Freund an der Leitung zu hören.
„Ja, hallo“, antwortete er, während er am Reißverschluss seiner Tasche zog.
„Guten Tag“, sagte eine fremde Frauenstimme, sanft, aber mit einem Hauch von Nervosität. „Spreche ich mit Stefan?“
Er runzelte die Stirn und vermutete einen Werbeanruf. Ohne weiter zuzuhören, legte er auf und widmete sich wieder seinen Vorbereitungen. Doch das Telefon klingelte sofort erneut. Diesmal warf er einen Blick auf den Anzeiger – eine unbekannte Nummer. Genervt schnauzte er:
„Ich habe kein Interesse an Ihren Produkten oder Dienstleistungen!“
„Stefan, es geht nicht darum“, erwiderte die Stimme ruhig, aber bestimmt. „Es ist etwas Ernstes. Es geht um Sie… und um mich.“
Stefan erstarrte. Etwas in ihrem Ton ließ ihn innehalten. Langsam setzte er sich auf die Couch, während sein Herz schneller schlug.
„Wer sind Sie? Und worum geht es?“ Er versuchte, seine Verwirrung zu verbergen.
Am anderen Ende entstand eine Pause, dann zitterte die Stimme:
„Mein Name ist Lina. Ich bin dreiundzwanzig. Und ich… ich glaube, ich bin Ihre Tochter.“
Stefan spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Tochter? Ein Scherz? Betrüger? Doch tief in ihm regte sich etwas – eine verschwommene Erinnerung, die er längst begraben hatte.
Stefan war dreiundfünfzig. Ein Mann in den besten Jahren, ein erfolgreicher Ingenieur, Abteilungsleiter in einem großen Unternehmen. Er hatte Freunde, mit denen er seit der Schulzeit in Kontakt stand, und den Ruf eines Mannes, der das Leben zu genießen wusste. Doch eine eigene Familie hatte er nicht. In seiner Jugend war er nicht bereit für ernsthafte Beziehungen gewesen, hatte seine Partnerinnen gewechselt wie Handschuhe. Er liebte es, im Mittelpunkt zu stehen, bewundert zu werden. Liebe war für ihn ein Spiel gewesen, das er immer gewann.
Mit vierzig begann er über die Zukunft nachzudenken. Die Jugend verblasste, und die Einsamkeit, die ihm einst wie Freiheit vorkam, lastete plötzlich schwer auf ihm. Da traf er auf Sabine – klug, schön, eine Frau, mit der er sich erstmals ein gemeinsames Leben vorstellen konnte. Sie planten eine Hochzeit, doch eines Tages verließ sie ihn für einen anderen. Stefan war am Boden zerstört. Er sah es als Strafe für seine leichtsinnige Vergangenheit, für all die Herzen, die er zerbrochen hatte.
Danach gab es keine ernsthaften Beziehungen mehr. Kurze Romanzen flammten auf und erloschen, ohne Spuren zu hinterlassen. Mit fünfzig hatte er sich damit abgefunden: keine Frau, keine Kinder. Er sah sich schon als einsamen alten Mann, vielleicht mit einem Hund, der über die Jugend im Park schimpfte. Dieser Gedanke bedrückte ihn, doch er verdrängte ihn – suchte weiter nach „der Einen“ und hielt Kontakt zu seinen Freunden. Deren Familien wurden ihm fast zur Ersatzfamilie, auch wenn er sich auf deren Feiern zunehmend fehl am Platz fühlte.
Verwandte hatte er kaum noch. Seine Eltern waren gestorben, Geschwister gab es nicht. Nur eine entfernte Cousine und deren Sohn, die er einmal im Jahr sah. Das Leben verlief in ruhigen Bahnen, und Stefan erwartete keine Veränderung mehr. Doch dieser Anruf stellte alles auf den Kopf.
„Lina? Meine Tochter?“ Sein Mund fühlte sich trocken an. „Woher willst du das wissen?“
Sie zögerte, als müsse sie sich sammeln.
„Meine Mutter hieß Nina. Nina Becker“, sagte sie.
Der Name traf ihn wie ein Blitz. Stefan schloss die Augen, und Bilder der Vergangenheit tauchten auf. Mit dreißig war er voller Energie und Charme gewesen. Eine Dienstreise hatte ihn in eine Nachbarstadt, nach Rosenheim, geführt. Nach der Arbeit war er in ein Café gegangen, wo zwei Frauen saßen. Sie lachten, unterhielten sich lebhaft. Selbstsicher hatte er sich zu ihnen gesellt. Eine der Frauen, Sarah, ging bald, doch die andere – Nina – blieb.
Nina war Studentin, frisch mit dem Studium fertig. Sie plauderten, lachten, spazierten durch die nächtliche Stadt. Stefan bemerkte kaum, wie er in ihrer kleinen Mietwohnung landete. Die drei Tage der Dienstreise vergingen wie im Flug. Sie waren jede Nacht zusammen, und er fühlte sich lebendiger denn je. Als er abreisen musste, bot er an, Nummern auszutauschen, doch Nina lehnte ab.
„Wir haben keine Zukunft“, hatte sie mit traurigem Lächeln gesagt. „Das war einfach ein schöner Moment.“
Stefan hinterließ ihr seinen Namen – falls sie es sich anders überlegte. Doch schon einen Monat später hatte er sie vergessen, gefangen in einer neuen Affäre. So war er in seiner Jugend gewesen – sorglos, im Moment lebend.
„Stefan, sind Sie noch da?“ Linas Stimme riss ihn zurück in die Gegenwart.
„Ja, ich bin hier“, antwortete er heiser. „Warum glaubst du, ich sei dein Vater?“
„Mama hat es mir erzählt“, flüsterte sie. „Sie ist vor zwei Monaten gestorben. Sie war krank… Wir haben es zu spät erfahren. Aber vor ihrem Tod hat sie von Ihnen erzählt. Ihren Namen genannt, ein altes Foto gezeigt. Von damals in Rosenheim. Sie hat es aufgehoben. Ich habe Sie in den Sozialen Medien gefunden, dann Ihre Nummer.“
Stefan schwieg und versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Nina war tot. Und er hatte nicht einmal gewusst, dass er eine Tochter hatte.
„Warum hat sie es mir nie gesagt?“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Hauch.
„Mama sagte, Sie wären nicht bereit für eine Familie gewesen. Sie wollte Sie nicht binden. Hat gesagt, sie würde allein klarkommen“, antwortete Lina. „Jetzt habe ich niemanden mehr. Ich will Ihnen nicht zur Last fallen, aber… ich musste Sie finden.“
Stefan spürte, wie ihm ein Kloß im Hals saß. Er wusste nicht, was er sagen sollte, doch eines war klar: Er musste dieses Mädchen treffen.
„Lina, lass uns sehen“, sagte er. „Ich möchte dich kennenlernen.“
„Gut“, flüsterte sie erleichtert.
Stefan sagte den Ausflug ab. Die Nachricht von einer Tochter hatte seine Welt erschüttert. Er wusste nicht, was er fühlte – Freude, Verwirrung, Schuld? Doch eins war sicher: Er konnte diesen Anruf nicht ignorieren.
Sie trafen sich in einem gemütlichen Café in der Innenstadt. Lina war eine zierliche junge Frau mit großen Augen, in denen sich Hoffnung und Angst spiegelten. Sie hatte ein altes Foto dabei – Stefan und Nina, jung, lachend. Dazu eine Geburtsurkunde mit seinem Namen im Feld „Vater“.
„Ich will nicht, dass Sie denken, ich wäre eine Betrügerin“, sagte sie und spielte nervös mit der Serviette.
„Ich bin kein Millionär, dass Betrüger hinter mir her wären“, versuchte er zu scherzen, doch seine Stimme zitterte. „Ich erinnere mich an deine Mutter, Lina. Und ich glaube dir.“
Sie sprachen stundenlang. Lina erzählte von ihrer Kindheit, von der Mutter, die später heiratete, doch die Ehe scheiterte. Letztlich hatte sie ihre Tochter allein großgezogen. Lina hatte keine Geschwister, und nach Ninas Tod war sie völlig allein. Verzweifelt hatte sie sich entsEr nahm ihre Hand und lächelte durch Tränen, wissend, dass dieser eine Anruf ihm endlich die Familie geschenkt hatte, nach der er sich sein ganzes Leben lang gesehnt hatte.