«Wo bist du, mein Sohn?..» – Eine Geschichte eines alten Frühlings
Elisabeth Schneider schob ihre dünne, von den Jahren gezeichnete Hand zitternd in den Briefkasten. Die Gelenke knackten, doch sie zog den einzigen Umschlag heraus – eine Postkarte. Der Rand war abgegriffen, auf der Vorderseite blühten vergilbte Blumen. „Zum 8. März“ entzifferte sie mit müden Augen. Langsam öffnete sie sie, ihre Lippen bewegten sich fast lautlos, als fürchtete sie, die Wärme dieser wenigen Zeilen zu verscheuchen.
„Mama, alles Gute zum Frauentag. Gesundheit und Wärme für dich. Ich komme bald. Dein Andreas.“
Ihr Sohn. Ihr einziges Kind. Ihr Andreas. Inzwischen grauhaarig, längst erwachsen, selbst Vater. Doch in ihrem Herzen blieb er der kleine Junge, dem sie die Schals band und die Hemden vor der Schule glättete.
Elisabeth presste die Karte an ihre Brust und flüsterte:
„Bald… Er kommt bald…“
Wie in einem Ritual setzte sie sich auf das abgenutzte Sofa am Fenster. Durch den verblichenen Vorhang war der Hof zu sehen. Unverändert. Wie vor zwanzig, dreißig Jahren. Nur die Bäume waren höher, die Bänke schiefer.
Auf ihrem Schoß lag ein Album. Seine Schulzeit, sein Abitur, die Uni, die junge Braut mit einem Strauß in der Hand. Sein ganzes Leben hatte sie begleitet. Nun war es still. Nur noch seltene Karten und Anrufe, in denen er immer „in Eile“ war, „viel Arbeit“ hatte, „spätestens am Wochenende“ kommen würde. Die Wochenenden vergingen. Und sie wartete.
Plötzlich bemerkte sie ein junges Mädchen. Es saß auf der Bank, starrte traurig die Straße hinunter. Minuten später kam ein Junge. Er redete, erklärte, doch sie wandte sich ab, schüttelte den Kopf. Dann Tränen. Er ging. Sie blieb. Allein. Wie sie selbst.
Elisabeth murmelte halblaut:
„Wir Frauen warten. Unser Leben lang. Erst auf die Väter, dann die Männer, dann die Söhne. Und seltener auf die Töchter. So ist unser Los…“
Erinnerungen kamen hoch. Wie sie auf ihren Mann vom Krieg gewartet hatte, wie sie nächtelang wachlag, wenn Andreas im Ferienlager war. Wie sie im Frost zur Apotheke rannte, als er Fieber hatte. Alles für ihn. Ihr ganzes Leben – ihm gewidmet.
Auf dem Tisch war alles vorbereitet: Kirschkuchen, sein Lieblingsmarmelade, Kompott, Kartoffelsalat – wie früher. Das Tischtuch gebügelt, die Teller gestellt. Nur saß niemand daran.
Tränen tropften auf die Karte. Sie wandte sich vom Fenster ab und rief plötzlich:
„Ich will nicht mehr allein sein! Nicht heute! Nur diesmal – nicht allein!“
Sie stand auf, griff nach dem Umhang, warf den Mantel über und ging hinaus. Sie näherte sich dem Mädchen, das noch immer auf der Bank saß. Es blickte erschrocken auf.
„Entschuldigen Sie“, flüsterte Elisabeth. „Ich bin nicht verrückt. Ich sah Sie und dachte… Vielleicht sind Sie heute auch allein. Möchten Sie auf einen Tee kommen? Ich habe Kuchen. Nur… menschliche Gesellschaft.“
Das Mädchen stutzte:
„Es tut mir leid, aber… Mein Freund sollte eigentlich… Danke, das ist lieb. Aber…“
„Schon gut“, lächelte Elisabeth sanft. „Ich wollte nur… Vielleicht hätten wir uns heute Gesellschaft leisten können. Alles Gute.“
Langsam stieg sie die Treppe hinauf. Ihr Herz klopfte wie vor einer Prüfung. Im Flur war es dunkel. Doch da – eine Gestalt an der Tür. Sie blinzelte, und ihr Herz stockte. An der Wand lehnte ein Mann, unrasiert, müde, als käme er von einer langen Reise.
Er hörte ihre Schritte, öffnete die Augen. Und lächelte. Leise, wie als Kind, flüsterte er:
„Mama… Na, hallo.“
Die Tränen brachen hervor. Ihre Hände zitterten, die Stimme brach:
„Du bist da… Mein Junge ist da…“
Und auf einmal war die Welt wieder ganz. Das Warten, die Einsamkeit, die leeren Fenster – alles vergessen. Denn das Wichtigste war geschehen. Sie hatte gewartet. Und er war gekommen.