**Unter dem Regen am Grab**
Ein kalter Herbstregen peitschte über die matschige Straße im Dorf Tannendorf. Karl Bauer, gebeugt unter der Last der schweren Tropfen, stapfte entschlossen weiter. Der Schlamm klebte an seinen Stiefeln und ließ ihn fast ausrutschen, doch er blieb nicht stehen. Heute musste er bei ihr sein. Bei seiner Lieselotte. Endlich zeichneten sich durch den Regenschleier die Umrisse des Friedhofs ab.
»Da ist ihre Linde«, flüsterte Karl und spürte, wie sein Herz sich zusammenzog.
Er trat an den schlichten Grabstein, kniete nieder und beachtete nicht die durchnässte Kleidung. Der Regen rann über sein Gesicht, vermischte sich mit seinen Tränen. Wie lange er so verharrte, wusste niemand. Doch plötzlich hörte er Schritte hinter sich. Karl drehte sich um und erstarrte – er traute seinen Augen nicht.
Der Morgen hatte trüb und feucht begonnen. Karl Bauer wartete an der Bushaltestelle in der Stadt, in seinen alten Mantel gehüllt. Der Bus hatte Verspätung, und das ärgerte ihn nur noch mehr. Neben ihm lachte ein Mädchen unbekümmert in ihr Telefon, ohne seinen finsteren Blick zu bemerken.
»Könnten Sie etwas leiser sein?«, knurrte er unwirsch.
»Entschuldigung«, antwortete sie verlegen und legte das Handy weg. »Mama, ich ruf dich später an, ja?«
Eine peinliche Stille folgte. Karl schämte sich für seine Schroffheit. Er räusperte sich und murmelte:
»Tut mir leid, ich bin heute nicht gut drauf.«
Das Mädchen lächelte warm:
»Schon okay. Dieses Wetter drückt allen aufs Gemüt. Ich mag den Herbstregen übrigens. Und diesen Geruch – als ob der Herbst selbst atmet!«
Karl fand keine Antwort und nickte nur. Er mochte keine belanglosen Gespräche mit Fremden. Dafür war immer Lieselotte da gewesen, seine Frau. Sie erledigte alles: von den Nebenkostenabrechnungen bis zum Tratschen mit der Verwandtschaft. Karl hatte das als selbstverständlich hingenommen – solange sie da war.
Seine abgeschottete Welt, in der Lieselotte alle Sorgen trug, war ihm bequem erschienen. Doch jetzt, ohne sie, fühlte sie sich leer und kalt an.
Das Mädchen erzählte trotz seines Schweigens weiter:
»Eigentlich ist es ja gut, dass der Bus Verspätung hat. So haben die, die zu spät kommen, noch eine Chance. Meine Freundin zum Beispiel ist noch nicht da.«
Karl wollte erwidern, dass das ein schwacher Trost für diejenigen war, die im Regen froren. Doch da erinnerte er sich an Lieselotte. Hätte er damals vor vierzig Jahren nicht noch den Bus erwischt, wären sie sich nie begegnet. Wie wäre ihr Leben dann verlaufen? Wäre sie glücklicher gewesen?
Lieselotte hatte selbst in den dunkelsten Tagen Licht gefunden. Ihr Lächeln wärmte, ihre Güte machte die Welt besser.
»Ich wusste nicht einmal, wann es ihr schlecht ging«, dachte Karl, und die Tränen stiegen ihm hoch.
Um sich abzulenken, redete er weiter:
»Fahren Sie nach Tannendorf? Abgelegene Gegend, kaum junge Leute dort.«
»Ja«, nickte das Mädchen. »Ich besuche meine Tante Vroni. Und Sie?«
»Zu meiner Frau«, antwortete Karl leise. »Da ist ihre Heimat.«
»Wie heißt sie? Vielleicht kenne ich sie.«
»Schneider. Lieselotte Margarete.«
Das Mädchen überlegte, schüttelte dann aber den Kopf:
»Nein, tut mir leid.«
»Sie ist, nachdem wir heirateten, in die Stadt gezogen«, erklärte Karl. »Nur ihre Eltern besuchte sie noch, und als die starben, kam sie kaum noch zurück.«
Er verstummte, versunken in Erinnerungen. Lieselotte hatte Tannendorf so geliebt. Sie wollte, dass sie als Familie hinfuhren, doch Karl hatte nie Zeit. Jetzt hatte er Zeit – aber keine Familie mehr. Sein Sohn, Markus, lebte sein eigenes Leben, die Enkel brachte er nicht mit.
»Da kommt meine Freundin!«, rief das Mädchen und winkte. »Hierher, Greta!«
Sie lächelte Karl an:
»Und jetzt kommt auch der Bus.«
Tatsächlich bog der Bus um die Ecke. Die Fahrt nach Tannendorf dauerte zwei Stunden. Karl erinnerte sich, wie Lieselotte als junge Frau einmal den Bus verpasst hatte und sie bis tief in die Nacht durch die Stadt streiften. Es war eine glückliche Zeit gewesen.
Dann kam der Alltag. Sie stritten selten – mit Lieselotte konnte man sich kaum streiten. Ihre Geduld und Güte kannten keine Grenzen. Doch Karl hatte sich verändert. Ihre Liebe wurde ihm zur Selbstverständlichkeit, er schätzte die gemeinsamen Momente nicht mehr.
Hätte er seinem jüngeren Ich eine Botschaft schicken können, wäre sie einfach gewesen: »Behalte sie im Herzen. Jeder Tag mit ihr ist ein Geschenk.«
Als der Bus in Tannendorf einfuhr, schlug Karls Herz schneller. Ihm fiel ein Satz aus einem Buch ein: »Die Hölle ist das ewige Nie-wieder.«
Der Regen prasselte unaufhörlich gegen die Scheiben. Karl erhob sich schwerfällig:
»Das ist meine Haltestelle.«
Er trat in den strömenden Regen, ohne sich umzusehen. Das Mädchen und ihre Freundin stiegen ebenfalls aus und flüchteten unter das Dach der Haltestelle. Als sie sah, wohin Karl ging, rief sie:
»Wo gehen Sie hin? Da ist nur der Friedhof!«
Karl blieb stehen, drehte sich um, sagte aber nichts. Sein Schweigen sprach Bände. Das Mädchen verstand.
Der Tag, an dem Lieselotte für immer ging, hatte sich Karl ins Gedächtnis gebrannt. Sie hatten sich wegen einer Lappalie gestritten. Wie üblich schmollte er, verweigerte das Abendessen und verstummte. Lieselotte, immer besorgt um ihn, versuchte den Streit zu glätten, doch er blieb hart.
»Ich geh kurz einkaufen«, sagte sie und wischte sich eine Träne weg. »Soll ich dir was mitbringen?«
»Nichts«, brummte Karl.
Lieselotte verließ das Haus – und kam nicht wieder. Auf dem Zebrastreifen erfasste sie ein Auto. In einem Augenblick brach Karls Welt zusammen.
Nun stapfte er durch den Matsch, ohne die Kälte zu spüren. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht, doch er ging unbeirrt weiter. Am Grab seiner Lieselotte sank er vor dem Stein in die Knie.
»Da ist deine Linde, mein Mädchen«, flüsterte er, von Schmerz überwältigt.
Tränen mischten sich mit dem Regen. Er wusste nicht, wie lange er so verharrte. Doch dann hörte er wieder Schritte. Als er sich umdrehte, stand das Mädchen von der Haltestelle vor ihm – durchnässt, aber mit warmem Lächeln. In der Hand hielt sie einen Regenschirm.
»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte sie leise. »Aber Ihre Frau würde nicht wollen, dass Sie krank werden. Kommen Sie mit zu uns, warten Sie den Regen ab.«
Karl stützte sich auf ihre Hand und stand langsam auf. Das Mädchen fuhr fort, als fürchte sie sein Schweigen:
»Ich weiß, sie hat Sie sehr geliebt. Und sie hätte Ihnen verziehen.«
»Ist es so offensichtlich, dass ich mir Vorwürfe mache?«, krächzte Karl.
»Schuldgefühle gehören zum Verlust dazu«, antwortete sie. »Jeder, der geliebte Menschen verliert, kennt das. Aber lassen Sie sie nicht noch trauriger sein. Gehen Sie jetzt, Sie sind klitschnass.«
Karl hörte ihr zu, und in ihren Worten lag etwas von Lieselotte – dieselbe GüteEr nahm ihren Schirm und ging mit ihr, während ein leichter Hauch von Hoffnung in seinem Herzen aufstieg, als ob Lieselotte selbst ihm zulächelte.