Als ich zurückdenke, wie alles begann, zieht sich mein Herz vor Schmerz zusammen. Mein Mann Heinrich und ich wurden viel zu früh Oma und Opa. Unsere Tochter Katharina war erst sechzehn, als sie unsere Enkelin Marie zur Welt brachte. Damals in unserem Dorf in der Nähe von München gab es nur ein Thema: die „Schande der Meiers“. Niemand hätte das von unserer Familie erwartet – wir galten als vorbildlich, finanziell abgesichert, geachtet. Ich war leitende Buchhalterin in einer Agrargenossenschaft, Heinrich LKW-Fahrer auf Langstrecke. Unsere Tochter wuchs in behüteten Verhältnissen auf… doch scheinbar zu behütet.
Unsere Katharina war als Kind so klug. Schulolympiaden, Auszeichnungen, Ballett, Englischkurse. Doch dann entglitt sie uns plötzlich. Wurde verschlossen, schnippisch, antwortete nur in abgehackten Sätzen. Und dann… Mit fünfzehn: ein Bauch so prall wie ein Ballon. Zuerst dachten wir, es sei ein Scherz. Dann kamen der Notarzt, das Krankenhaus, mein Herzinfarkt.
Heinrich wollte dem Jungen die Kehle durchschneiden, doch der kam sturzbetrunken und vergaß sogar Mariens Namen. Er sah sie nur einmal. Da wurde uns klar: Jetzt sind wir nicht mehr Oma und Opa. Jetzt sind wir Mama und Papa für dieses kleine Mädchen.
Katharina wollte alles hinter sich lassen und zog nach München. Machte ihren Abschluss, heiratete, lebt seit zwanzig Jahren, als wäre nichts gewesen. Kinder wollte sie keine mehr. Marie wollte sie nicht zurück. „Das ist nicht sein Kind, er würde es nie akzeptieren“, sagte sie. Und so akzeptierte sie es selbst auch nie. Wir aber wurden ein zweites Mal Eltern – als unsere Kräfte bereits schwand.
Als Marie sechs wurde, wussten wir: Unser Dorf war keine Zukunft für sie. Wir verkauften unser Haus, kauften eine kleine Wohnung am Stadtrand, nahmen einfache Jobs an – nur für die Rente. Alles für sie. Nachhilfe, Musikunterricht, Reisen – wir sparten an allem. Ich trug drei Winter denselben Mantel, Heinrich flickte seine Stiefel. Aber Marie hatte alles: Smartphones, Tablets, Ferien im Ausland. Als sie an der Uni anfing, verkauften wir ein Stück Land, um ihr ein Praktikum in Berlin zu finanzieren. Dann London. Dann ein guter Job in Frankfurt.
Wir waren stolz. Wir glaubten: Es war nicht umsonst. Alles für sie.
Doch dann begann es…
Zuerst rief sie nicht mehr an. Dann antwortete sie nur noch knapp. Schließlich herrschte Schweigen. Wenn wir sie zufällig auf der Straße trafen, drehte sie sich weg. Einmal sahen wir sie an der Haltestelle. Wir liefen freudestrahlend auf sie zu. Doch sie reagierte kalt:
*„Entschuldigung, Sie verwechseln mich wohl.“*
Ich brach in Tränen aus. Später kam sie und sagte:
*„Oma, sei nicht beleidigt. Du bist eben… einfach. Meine Freunde… die sind anders. Sie würden dich nicht verstehen. Was soll ich ihnen erzählen? Vom Dorf, von den Kartoffeln? Opa mit seinem kaputten Rücken von der Arbeit? Das ist doch peinlich.“*
Sie schämte sich für uns.
Heinrich und ich schliefen die ganze Nacht nicht. Er saß in der Küche, rauchte eine Zigarette nach der anderen. Ich weinte. Nicht nur aus Kränkung – es war Verrat. Wir waren ihr doch nicht fremd. Wir hatten sie von klein auf großgezogen. Wir wachten Nächte lang an ihrem Bett bei Fieber. Wir kämpften uns aus Schulden und Armut, damit sie es besser hatte.
Dann kam ihr Verlobter. Sie stellte uns erst vor, als wir die Unterlagen für ihren Immobilienkredit unterschreiben sollten. NiSeit jenem Tag steht unsere Haustür zwar immer offen für sie, doch bis heute hat sie keinen Schritt zurück zu uns getan.