Bitteres Abschiednehmen und neue Hoffnung: Die Geschichte von Elke
Die Scheidung fiel Elke schwer. Nach fünfzehn Jahren Ehe verließ Andreas sie und stritt um jede Kleinigkeit – vom Geschirr bis zu den alten Handtüchern. Es gibt Männer, die der Frau und den Kindern alles lassen, doch Andreas gehörte nicht dazu. Er nahm mit, was er tragen konnte. Elke, die keinen Streit wollte, sagte ihm ins Gesicht: »Nimm, was du willst, aber verschwinde aus meinem Leben.«
Mit ihrer Tochter zog sie zu ihrem Vater, um zu warten, bis Andreas die Wohnung leer geräumt hatte. Als sie zurückkehrte, stockte ihr der Atem: Er hatte sogar die Decke vom Sofa mitgenommen, die kleinen Hocker, den Couchtisch und den Kleiderständer im Flur. Die Wohnung, ihre eigene, wirkte verlassen, doch Elke war eines froh – er würde nie wieder hier sein. »Dinge kann man ersetzen«, dachte sie und wischte sich die Tränen ab.
Mit sechsundvierzig Jahren beschloss Elke, nie wieder zu heiraten. Männer erschienen ihr nun nur noch als Freunde, Liebe hingegen als etwas Fernes und Unzuverlässiges. Dreizehn Jahre nach der Scheidung war ihre Tochter erwachsen, hatte geheiratet und war in eine andere Stadt gezogen. Elkes Eltern lebten längst nicht mehr, und sie hatte sich an die Einsamkeit gewöhnt. Sie mochte dieses Alter: nicht mehr jung, aber voller Kraft, mit Erfahrung im Gepäck. Elke arbeitete als leitende Angestellte in einem großen Unternehmen, war stattlich, mit langem kastanienbraunem Haar, das stets zu einem eleganten Knoten gebunden war. Doch Romanzen ging sie aus dem Weg – sie glaubte nicht an Liebe im reifen Alter. »Wenn überhaupt, dann liebt man anders als in der Jugend«, dachte sie. »Es ist keine Leidenschaft, sondern das Bedürfnis, jemanden an seiner Seite zu haben.« Ohne echte Gefühle wollte sie ihr Leben mit niemandem teilen.
Jedes Jahr reiste Elke allein in den Urlaub, meist ans Meer, doch träumte sie davon, Hamburg zu besuchen – eine Stadt, über die sie so viel gehört hatte. Sie wollte die alten Straßen sehen, die salzige Meeresluft atmen. Ihr Unternehmen schickte sie regelmäßig auf Seminare. Verheiratete Kollegen mieden solche Reisen, doch Elke sagte gerne zu: Sie mochte es, neue Leute kennenzulernen und Sehenswürdigkeiten zu erkunden. Diesmal ging es nach München – eine Stadt, die sie noch nie gesehen hatte. Das Seminar dauerte drei Tage, zwei Tage rechnete sie für die Anreise, zwei blieben frei. Elke freute sich auf neue Eindrücke.
Am Vorabend der Reise ging sie zum Friseur, ließ sich die Nägel machen und die Haare etwas kürzen schneiden. Mit einem kleinen Reisekoffer machte sie sich auf den Weg nach München. An der Hotelrezeption suchte sie ihren Namen auf der Teilnehmerliste. Plötzlich spürte sie, dass sie jemand ansah. Sie hob den Blick und entdeckte einen Mann, der im Sessel gegenüber saß. Er betrachtete sie unverwandt, fast ohne zu blinzeln. Elke errötete, bemerkte aber: Er war gutaussehend, mit leicht ergrauten Schläfen, gepflegtem Bart und einer teuren Brille.
Da kam ihr Kollege Stefan aus einer Nachbarstadt angelaufen: »Hallo, Schönheit! Elke, du wirst von Jahr zu Jahr hübscher! Sieh mal, der Mann da kann dieAugen nicht von dir lassen – das muss Liebe auf den ersten Blick sein!« Elke lachte, doch in ihrem Innern regte sich etwas, und sie musste unwillkürlich noch einmal zu dem Fremden hinüberschauen.