Heute war eigentlich ein schöner Tag. Ich ging durch die Straßen von Freiburg, um meine Enkelin Clara von der Schule abzuholen. Die Sonne schien, und meine Schuhe klapperten auf dem Pflaster, fast wie in meiner Jugend, als das Leben noch ein endloses Lied schien. Endlich hatte ich meine eigene Wohnung – hell, geräumig, ein Zimmer im Neubau, von dem ich so lange geträumt hatte. Fast zwei Jahre hatte ich jeden Cent gespart. Der Verkauf des alten Hauses in Baden-Württemberg brachte nur die Hälfte der Summe, den Rest gab meine Tochter Monika dazu. Doch ich schwor, ihr das Geld zurückzuzahlen. Mir, der siebzigjährigen Witwe, reichte die Hälfte meiner Rente. Die Jungen – Monika und ihr Mann – brauchten das Geld schließlich mehr.
In der Schulhalle wartete Clara, meine Achtjährige mit den blonden Zöpfen. Sie rannte zu mir, und wir plauderten auf dem Heimweg über Kleinigkeiten. Clara war mein Licht, mein größter Schatz. Monika hatte sie spät bekommen, fast mit vierzig, und mich damals um Hilfe gebeten. Ich wollte mein Dorf nie verlassen, wo jede Ecke Erinnerungen barg – aber für meine Tochter und Enkelin tat ich es. Ich zog näher heran, kümmerte mich um Clara: holte sie von der Schule ab, blieb, bis die Eltern von der Arbeit kamen, dann ging ich in meine kleine Wohnung. Die Wohnung war auf Monikas Namen – nur zur Sicherheit, wie ich dachte.
„Oma“, unterbrach Clara plötzlich meine Gedanken und sah mich mit großen Augen an, „Mama hat gesagt, wir müssen dich ins Altenheim bringen.“
Ich erstarrte, als hätte mich eiskaltes Wasser getroffen.
„In welches Heim, Schätzchen?“ Mein Mund war trocken.
„Da, wo alte Leute wohnen. Mama hat zu Papa gesagt, es wäre besser für dich, damit du dich nicht langweilst.“ Claras Worte trafen mich wie Schläge.
„Ich will nicht ins Heim! Dann fahr ich lieber in ein Sanatorium“, sagte ich, während mir schwindelig wurde. Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte.
„Oma, sag Mama bitte nicht, dass ich es dir erzählt habe“, flüsterte Clara und drückte sich an mich. „Ich habe sie nachts mit Papa reden hören. Sie hat schon mit jemandem gesprochen, aber sie holen dich erst später.“
„Ich sag nichts, mein Schatz“, versprach ich mit zitternder Stimme und öffnete die Wohnungstür. Meine Knie wurden weich. „Mir ist nicht gut, ich muss mich hinlegen. Zieh dich erst mal um, ja?“
Ich sank aufs Sofa, spürte mein Herz rasen. Diese Worte – aus Kindermund – hatten meine Welt zerrissen. Es war die Wahrheit. Eine Wahrheit, die sich ein Kind nicht ausdenken konnte.
Drei Monate später packte ich meine Sachen und kehrte ins Dorf zurück. Jetzt miete ich dort ein Zimmer und spare auf ein kleines Haus, um Halt zu finden. Alte Freundinnen und entfernte Verwandte stehen mir bei, doch in mir bleibt eine Leere.
Manche tuscheln hinter meinem Rücken: „Selbst schuld, hätte sie mit Monika reden sollen.“ Aber ich weiß es besser.
„Ein Kind erfindet so etwas nicht“, sage ich mit fester Stimme und starre ins Nichts. „Monikas Schweigen spricht Bände. Sie hat nicht einmal angerufen, nicht gefragt, warum ich gegangen bin.“
Sie weiß es also. Und schweigt. Ich warte. Auf einen Anruf, eine Erklärung – ein Wort. Doch ich rufe nicht an. Der Stolz und der Schmerz halten mich gefangen. Ich fühle keine Schuld, aber mein Herz blutet in dieser Stille.
Jeden Tag frage ich mich: Ist das alles, was von meiner Liebe und Opfer bleibt? Muss mein Alter wirklich so einsam sein?