Tante Olga, Sie müssen aus unserem Haus ausziehen. Mama möchte zurückkommen und hier leben, und ich freue mich nur. Sie ist unsere richtige Mutter, und Sie sind uns niemand. Packen Sie bitte schnell Ihre Sachen. Olga blickte traurig auf Anja, das Mädchen, das sie die letzten zehn Jahre großgezogen hatte, das ihr und ihrem Bruder wie eine Mutter gewesen war.
Und jetzt wurde sie einfach fortgeschickt. Olga wäre zwar sowieso nicht geblieben, aber wenn man direkt aufgefordert wird zu gehen, von jemandem, den man geliebt und für den man alles gegeben hat – das tut weh. Die Koffer waren gepackt, ein Taxi konnte gerufen werden. Zum Glück hatte sie einen Ort, an den sie gehen konnte. Ihr verstorbener Mann hatte vorgesorgt.
Vor zehn Jahren hatte alles begonnen.
„Komm, Olga, lass uns zusammenziehen. Wie lange willst du dich noch verstecken?“
„Ja, aber wir müssen mit deinen Kindern reden, Valter. Vielleicht sind sie dagegen.“
„Ach was, ich habe schon mit ihnen gesprochen. Sie brauchen eine weibliche Hand im Haus.“
Olga war unsicher. Was sollte mit ihrer Einzimmerwohnung passieren? Ihr einziger Sohn lebte in einem Kloster, hatte sich für ein Leben als Mönch entschieden. Vermieten wollte sie nicht – Mieter konnten eine Wohnung ruinieren.
Valter schlug vor, die Wohnung zu verkaufen und das Geld auf ein Sparkonto zu legen. Olga willigte ein. Mit dem Nötigsten zog sie zu Valter. Die Wohnung wurde schnell verkauft, das Geld landete auf ihrem Konto.
Valter hatte zwei Schulkinder. Ihre Mutter, seine Ex-Frau, war dem Alkohol verfallen und verschwunden. Valter war ein erfolgreicher Landwirt, hatte ein solides Haus gebaut und stand finanziell gut da.
Olga hatte er bei Freunden kennengelernt. Sie gefiel ihm gleich – diese bescheidene, liebevolle Frau. Nach Jahren des Kampfes mit seiner trunksüchtigen Ex-Frau hatte er vergessen, wie es war, mit einer vernünftigen Frau zusammenzuleben.
Olga arbeitete als Musiklehrerin. Sie war lange geschieden, lebte allein. Ihr Sohn hatte sich schon als Kind der Kirche verschrieben und seinen Traum wahrgemacht. Olga akzeptierte seine Entscheidung, auch wenn sie wusste, dass sie nie Enkelkinder sehen würde.
Mit Valter fühlte sie sich wieder als Frau – schön und begehrt. Er verwöhnte sie, schenkte ihr Blumen, ging mit ihr ins Kino und zum Essen. Seine Kinder schreckten sie nicht, also zog sie ohne Bedenken zu ihnen.
„Wie sollen wir Sie nennen? Können wir Tante Olga sagen?“
„Natürlich, Paul. Kommt, es gibt Abendessen – ich habe einen leckeren Kuchen gebacken und Kompott gemacht.“
Die Kinder aßen begeistert. Olga kam kaum mit dem Kochen nach, so groß war ihr Appetit. Sie kündigte ihren Job, das Geld reichte. Die Kinder mochten sie, die nette Tante passte gut in ihr Leben.
Anja wurde sechzehn. Ihr Vater verbot ihr, zur Disko zu gehen.
„Aber Valter, sie ist doch alt genug! Wann soll sie sonst tanzen gehen? In ihrem Alter ist das normal.“
„Olga, das ist doch nur Ablenkung. Sie sollte an die Schule denken!“
„Sie hat gute Noten, was willst du mehr?“
Valter winkte ab – ein Zeichen, dass er nachgab. Anja zwinkerte Olga freudig zu und machte sich fertig.
Paul hatte in der Schule eine Schlägerei gehabt. Valter holte den Gürtel raus. Olga hielt seinen Arm fest.
„Lass das, Valter. Jeder Junge gerät mal in so eine Situation. Er muss lernen, sich zu wehren. Aber nicht mit dem Gürtel, bitte.“
Valter steckte den Gürtel weg. Olga hatte recht. Sein Vater hatte ihn als Kind verprügelt, daher hielt er das für normal. Doch Olga überzeugte ihn vom Gegenteil.
Dann kam die erste, unerwiderte Liebe. Anja weinte bitterlich, sagte, sie könne ohne Markus nicht leben. Olga strich ihr über den Kopf, tröstete sie, versicherte ihr, dass sie klug und hübsch sei und noch den Richtigen finden würde. Dann schlug sie vor, Gesichtsmasken zu machen, Früchtetee zu trinken und einen Film anzuschauen. Anja wischte sich die Tränen ab und nickte.
Nach der Schule studierte Anja, heiratete. Ihr Söhnchen kam zur Welt, Olga half beim Aufpassen. Paul ging zur Bundeswehr und blieb dort. Es schien alles gut.
Doch dann starb Valter plötzlich. Sein Herz versagte, der Notarzt konnte nichts mehr tun.
Bei der Beerdigung kamen viele Menschen – Valter war beliebt und geachtet. Olga organisierte alles. Sie konnte nicht fassen, dass ihr Valter nicht mehr da war.
„Olga, schau mal – Valters Ex ist da. Taucht nach all den Jahren auf der Beerdigung auf. Hat sich nie für die Kinder interessiert… Völlig verfallen, sieht schlimm aus…“
Olga sah eine ungepflegte, aufgedunsene Frau neben Anja stehen.
Kurz vor seinem Tod hatte Valter etwas geahnt.
„Olga, lass uns das Geld abheben und dir eine Wohnung kaufen. Wir hätten deine damals nicht verkaufen sollen. Die Preise sind jetzt so gestiegen.“
Olga nickte. Glücklicherweise wurde genau ihre alte Wohnung angeboten – sie kauften sie zurück und vermieteten sie an Bekannte. Valter war zufrieden.
Und jetzt war Olga überflüssig. Die echte Mutter war ihnen näher – verständlich. Sie hatte ihr Recht auf Vergebung.
Leise schloss Olga die Tür und sah sich ein letztes Mal in dem Haus um, in dem sie glücklich gewesen war. Es war Zeit, neu anzufangen. Ohne Valter, ohne die Kinder. Sie hatten ihre Wahl getroffen, und Olga akzeptierte sie.
Am Ende zählt nur, wie viel Liebe man gegeben hat – nicht, wie viel zurückkommt.