**Tagebucheintrag**
Heute traf ich eine alte Bekannte, Karin Meier, im Supermarkt am Rande von Dresden. Sie schleppte eine übervolle Einkaufstasche, müde, aber mit einem Lächeln. „Hühnerschenkel im Angebot“, sagte sie. „Da koche ich gleich was Schönes. Markus liebt das, nimmt sich immer zweimal nach. Aber ich weiß nicht, wie ich das alles nach Hause bekommen soll – meine Beine sind schon ganz schwer.“
„Und das Katzenfutter wieder vergessen?“, fragte ihre Freundin Monika. „Dort um die Ecke ist es billiger.“
„Nein, hier ist es zu teuer. Am Markt spare ich zwei Euro. Erst die Taschen nach Hause, dann lauf ich nochmal. Keine Kraft mehr, aber alles muss man selbst machen.“
Die beiden Frauen standen an der Kasse eines kleinen Ladens. In ihrem Einkaufswagen nur das Nötigste: Reis, billiger Tee, Butter, ein paar Karotten, Milch, Sonderangebot-Kekse. Streng nach Liste, streng nach Rabatten. Kein Obst, keine Süßigkeiten, kein Luxus. Alles für die Familie.
„Warum hilft dir keiner? Tochter und Schwiegersohn sind doch erwachsen. Sollen sie doch vorbeikommen!“
„Markus wohnt bei seinen Eltern in Radebeul“, seufzte Karin. „Ich kann nicht zwei Stunden warten, bis er herkommt. Meine Tochter Laura ist mit den Kindern bei mir. So leben wir seit acht Jahren. Enkel, Schule – alles in der Nähe. Passt schon.“
„Acht Jahre? Laura bei dir, ihr Mann woanders? Wie soll das funktionieren?“
„Ja… Anfangs lebte sie bei seinen Eltern. Aber seine Mutter… eine schwierige Frau. Kontrollierend, mischt sich überall ein. Laura hielt es nicht aus – kam zurück zu mir. Erst dachten wir, es sei vorübergehend, dann kam das erste Enkelkind, es wurde eng, und so blieb es.“
„Und eine Wohnung mieten?“
„Markus wollte, aber Laura sagt, sie schaffen es nicht. Zwei Kinder, mittelmäßige Gehälter, und von seiner Mutter aus ist es näher zur Arbeit. Ich helfe: wecke die Kinder, bring sie zur Schule, Laura kann wenigstens schlafen. Sie dachten an einen Kredit, aber ich riet ab. Eine lebenslange Last. Noch nicht jetzt.“
„Ist das überhaupt eine Familie? Dein Schwiegersohn woanders, du trägst alles. Sollten sie nicht allein klarkommen?“
„Es sind meine Kinder. Wie könnte ich anders? Alles ist geregelt: Die Schule ist nah, der ältere Enkel ist sensibel, mag keinen Trubel. Und Laura allein – das wäre zu schwer. Ich helfe nur. Und Markus? Er ruft täglich an, kommt abends vorbei, am Wochenende gehen sie ins Kino oder Theater. Er vergisst seine Familie nicht. Trägt seinen Teil bei. Hilft, wo er kann. So passt es für alle.“
„Aber sie leben nicht zusammen…“
„Weißt du, wie viele Paare das heute so machen? Manche leben unter einem Dach und sind sich fremd. Diese hier sind eine Familie – trotz der Entfernung. Nicht jeden Abend am selben Tisch, aber füreinander da. Und das zählt, glaub mir.“
„Ich versteh‘s nicht… Ich hätte meinen Mann zurechtgewiesen, wenn er woanders schliefe.“
„Ich nicht. Ich sehe, wie meine Tochter trotz allem Hoffnung hat. Also lohnt es sich. Bald geht sie wieder arbeiten, dann sparen sie für eine Wohnung. Die Zukunft kommt. Bis dahin – so. Ohne Prunk, aber menschlich.“
Karin Meiers Geschichte ist nicht allein. Paare, die getrennt wohnen, aber zusammenhalten – was ist das? Eine Beziehung auf Abstand? Bequemlichkeit? Ein Kompromiss für die Kinder? Oder Selbsttäuschung? Wo endet Opferbereitschaft, wo beginnt Abhängigkeit?
Hat die Frau recht, die diese Last trägt, oder die Gesellschaft, die eine „richtige“ Familie fordert? Familie – wenn die Frau bei der Mutter lebt, der Mann bei seiner? Jeder muss das selbst entscheiden. Doch eines ist sicher: In Karins Herz lebt eine Liebe – nicht theatralisch, nicht für Fotos, sondern echt, müde, schwer, aber unendlich warm.
**Was ich heute gelernt habe:** Familie ist nicht immer da, wo man sie erwartet. Manchmal ist sie da, wo man füreinander einsteht – selbst wenn der Weg dazwischen weit scheint.