Als mein Mann mir erzählte, dass er seine Mutter für immer zu uns holen möchte, durchfuhr mich ein eiskalter Schauer. Nicht, weil ich etwas gegen sie hätte – im Gegenteil, ich schätze Gertrud Schmidt sehr und bin ihr dankbar für alles, was sie für unsere Familie getan hat. Doch meine Angst bleibt: Dass mit ihrer Ankunft unsere Ruhe endet und unser gewohntes Leben aus den Fugen gerät.
Seit dreizehn Jahren sind Stefan und ich ein Paar. Wir haben zwei Kinder – den älteren Lukas und die kleine Lina. Unser Zuhause ist eine Dreizimmerwohnung in München: Unser Schlafzimmer, und jedes Kind hat sein eigenes Zimmer. Der Alltag ist normal – Arbeit, Schule, Haushalt. Nicht einfach, aber wir kommen zurecht. Nur Freizeit bleibt kaum, besonders seit Gertrudes Gesundheit sich rapide verschlechtert hat.
Meine Schwiegermutter hat seit Jahren Probleme mit den Nieren und dem Herzen, und nun kommt noch schwerer Diabetes hinzu. Wegen ihres Übergewichts fällt es ihr schwer, selbst aufzustehen. Schon lange fahren wir mittwochs zu ihr, bringen Einkäufe und Medikamente, helfen beim Waschen. Am Wochenende kommen wir wieder – Wäsche, Putzen, Kochen, Gesellschaft.
Ich kann mich nicht erinnern, wann Stefan und ich das letzte Mal ein Wochenende nur für uns hatten. Doch ich habe nie geklagt. Gertrude stand uns immer bei, wenn wir Hilfe brauchten. Sie gab uns fast ihre gesamten Ersparnisse, damit wir die Wohnung kaufen konnten. Sie mischte sich nie ein, war weise und zurückhaltend. Genau deshalb schätze ich sie.
Doch dann sagte Stefan eines Abends beim Tee ganz beiläufig: *“Nach den Feiertagen zieht Mama zu uns. Ich habe es beschlossen. Sie darf nicht mehr allein sein.“*
Ich nickte nur. Was hätte ich sagen sollen? Er hat recht. Sie schafft es nicht mehr. Beim letzten Besuch konnte ich sie kaum aus der Badewanne heben, und ihr Herz setzte fast aus. Es ist furchtbar. Es schmerzt. Und es ist eine Verantwortung, der wir uns nicht entziehen können.
Doch dann kam die Frage: Wie sollen wir das schaffen? Drei Zimmer, vier Menschen. Gertrude braucht ihren Raum – also müssten die Kinder zusammenziehen. Und die verstehen sich schon jetzt nicht gut. Lukas, in der Pubertät, braucht Ruhe. Lina ist lebhaft, laut und schnell gekränkt. Ich sehe schon die Tränen, zugeschlagene Türen, Vorwürfe. Ich sehe, wie Gertrude unter dem Lärm leidet. Wie ich selbst gereizt und erschöpft werde. Und ich fürchte mich um unsere Ehe – solche Veränderungen gehen nie spurlos vorbei.
Ich schäme mich. Es klingt hart: Eine Frau, die sich beschwert, weil ihr Mann sich um seine Mutter kümmern will. Doch es ist auch meine Wahrheit. Ich bin nicht aus Stahl. Ich bin nur eine Frau, die Angst hat, das Wenige zu verlieren, was sie hat – Frieden, Gleichgewicht, Geborgenheit.
Ich schweige. Weil ich weiß, dass es richtig ist. Weil Gertrude es verdient hat, nicht allein zu altern. Weil Stefan es sich nie verzeihen würde, wenn ihr etwas zustieße.
Ich versuche, mich darauf einzustellen. Geduld zu lernen. Raum zu teilen, Stille, sogar die Luft. Dankbar zu sein, dass ich da sein kann.
Doch im Innern tut es weh. Weil ich mir wünsche, dass auch mich jemand auffängt. Dass mich jemand in den Arm nimmt und sagt: *“Du schaffst das. Ich bin bei dir. Du bist nicht allein.“*
Am Ende bleibt die Erkenntnis: Familie bedeutet manchmal, eigene Bedürfnisse zurückzustellen – nicht aus Pflicht, sondern aus Liebe. Und vielleicht finden wir genau darin eine neue Art des Zusammenhalts.