Auf der Suche nach Freiheit

Die Freiheit

Gertraud Meißner stand vor dem jungen Chef, die Hände hinter dem Rücken so fest verschränkt, dass die Finger weiß wurden. Ihr Herz hämmerte, doch ihr Blick blieb eisern. Auf dem Tisch lag das Kündigungsschreiben – ein Blatt Papier, das zum Symbol ihrer Entschlossenheit wurde, sich von den Fesseln des verhassten Jobs zu befreien.

Lukas, der neu ernannte Abteilungsleiter, musterte erst Gertraud, dann das Schreiben und hob wieder die Augen. Sein Gesicht zeigte eine Mischung aus Überraschung und Arroganz.

„Ernsthaft?“ fragte er kühl und schob das Papier beiseite, als wäre es eine lästige Formalität.

„Absolut“, antwortete Gertraud, ohne den Blick abzuwenden. Ihre Stimme zitterte vor unterdrückter Erregung, aber darin lag eine eiserne Entschlossenheit.

Lukas lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und hob leicht das Kinn. Er war neu in der Firma, benahm sich aber, als hätte er sie schon seit Jahrzehnten geführt. Sein herablassender Ton und die Art, wie er allen sagte, was sie zu tun hatten, trieben Gertraud zur Verzweiflung, doch sie hielt sich zurück.

„Gertraud, mal ehrlich“, begann er mit zusammengekniffenen Augen. „In Ihrem Alter einen Job zu finden – das ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Wollen Sie wirklich alles riskieren, ohne einen Plan B?“

„Woher wissen Sie, dass ich keinen Plan B habe?“ entgegnete sie scharf und biss sich auf die Lippe, um nicht lauter zu werden.

Lukas zog die Augenbrauen hoch:

„Also? Sie haben schon eine neue Stelle?“

„Nein.“

„Eben!“ rief er aus und breitete theatralisch die Hände aus. „Die Zeiten sind hart, besonders für jemanden, der… naja, nicht mehr zu den Jüngsten gehört.“

„Ich habe Pläne, Lukas. Danke für Ihre Sorge, aber ich bitte nur um Ihre Unterschrift“, schnitt sie ihm das Wort ab.

Mit diesem hochmütigen Bengel über ihre Träume zu sprechen, kam nicht infrage. Sie stand da wie ein Fels, bereit, ihren Entschluss zu verteidigen. In Gedanken lachte Lukas: „Pläne? Was kann sie schon vorhaben? Daheim sitzen und Socken stricken?“ Doch er schwieg. Der Verlust von Gertraud traf ihn hart – auch wenn er für die „alten Hasen“ im Team nichts übrig hatte, wusste er, dass ihr Erfahrungsschatz die Firma vor dem Untergang bewahrte. Junge Kollegen kamen und gingen, verlangten hohe Gehälter und Respekt, während die Veteranen wie Gertraud die eigentliche Arbeit schulterten.

Da ihm klar wurde, dass er eine wertvolle Mitarbeiterin verlor, wechselte er die Taktik. Er beugte sich vor, faltete die Hände und sprach mit gespielter Besorgnis:

„Gertraud, überlegen Sie es sich doch noch mal. Der Arbeitsmarkt ist voll von jungen, dynamischen Leuten. Die verdrängen einfach alle. Wollen Sie wirklich ohne alles dastehen?“

Gertraud konnte ein bitteres Lächeln kaum unterdrücken. „Dynamische Leute? Redet er von sich selbst?“, dachte sie und erinnerte sich daran, wie sie letzte Woche noch die Fehler in seinen Berichten korrigiert hatte – Fehler, für die sich ein Schüler schämen würde.

„Die Entscheidung steht“, sagte sie fest. „Ich gehe.“

Lukas runzelte die Stirn und verlor die Geduld.

„Sie wirken wie eine kluge Frau“, betonte er mit scharfem Unterton. „Hätte nicht gedacht, dass Sie so unüberlegt handeln würden.“

Inwendig lachte Gertraud. Erst vor Kurzem hatte er sie hinter ihrem Rücken als „alte Schachtel“ bezeichnet – sie hatte es zufällig mitbekommen. Und jetzt lobte er ihren Verstand? Was für eine Heuchelei.

„Vielleicht haben Sie recht“, antwortete sie und sah ihm direkt in die Augen. „Ich bin nicht besonders klug. Wie war das noch? ‚Alte Schachtel‘? Das passt wohl besser.“

Lukas errötete leicht, offensichtlich überrascht, dass seine Worte zurückkamen. Doch er fing sich schnell und kehrte zu seiner gewohnten Überheblichkeit zurück.

„Na gut, ich habe versucht, Sie zur Vernunft zu bringen“, sagte er kalt. „Das Schreiben unterschreibe ich. Sie können gehen.“

„Danke“, erwiderte sie knapp.

„Und denken Sie nicht, Sie könnten die Kündigungsfrist aussitzen“, fügte er drohend hinzu. „Für jeden Fehler gibt es Abzüge. Sie arbeiten nicht – Sie gehen ohne Geld.“

„Keine Sorge, Lukas“, lächelte Gertraud. „Ich werde meine Arbeit tun, wie immer.“

Ihre Ruhe brachte ihn nur noch mehr in Rage. Er presste die Lippen zusammen, schwieg aber.

„Übrigens“, sagte sie schon an der Tür, „ich habe noch mal Ihre Tabellen geprüft. Die Fehler sind korrigiert – diesmal ersparen Sie sich also die Blamage vor den Kollegen.“

Lukas’ Augen blitzten wütend auf, doch eine Antwort blieb ihm erspart – Gertraud war bereits gegangen.

Sie schritt durch den Flur und spürte, wie sich die Wärme der Freiheit in ihr ausbreitete. Die Entscheidung, die Firma zu verlassen, in der sie fünfzehn Jahre verbracht hatte, war nicht leicht gewesen. Noch vor Kurzem hätte sie den Gedanken an Kündigung für Wahnsinn gehalten. Doch jetzt, zum ersten Mal seit Jahren, fühlte sie Erleichterung, als hätte sie eine schwere Last abgeworfen.

Die Arbeit in der Logistikfirma in der Kleinstadt Eichstätt war längst zur Qual geworden. Sie zehrte an ihren Kräften und vergiftete jeden Tag. Der Morgen begann mit dumpfer Müdigkeit: Der Wecker riss sie aus dem Schlaf, und Gertraud lag da, starrte an die Decke und konnte sich kaum aufraffen. Sie hetzte sich durch den Tag, vergaß das Frühstück, und abends kam sie erschöpft nach Hause. Nur an den Wochenenden, wenn sie sich um ihre Zimmerpflanzen kümmerte oder ihre Lieblingssendungen schaute, fand sie etwas Ruhe. Doch montags ging der Albtraum weiter.

Doch so war es nicht immer gewesen. Vor fünfzehn Jahren, als sie in der Firma anfing, brannte ihr Ehrgeiz. Sie war voller Elan, lernte schnell und lebte für ihre Arbeit. Damals war das Team wie eine Familie, und die Vorgesetzten respektierten ihre Mitarbeiter. Das Gehalt war für die Verhältnisse der Zeit auch in Ordnung. Doch mit dem neuen Management änderte sich alles. Junge, überhebliche Chefs, oft inkompetent, aber mit großen Ambitionen, machten den Job zur Hölle. Demütigungen, Kleinigkeiten als Anlass für Abmahnungen – das gehörte plötzlich zum Alltag.

Viele der alten Kollegen hielten es nicht aus und verließen die Firma. Gertraud und ein paar andere blieben, obwohl das Gehalt dürftig und die Zustände unerträglich waren. Eigentlich hätten ihre Erfahrung und Loyalität Respekt verdient – stattdessen ernteten sie nur Hohn. Gertraud verstand nicht, wie es so weit gekommen war. Schließlich waren sie es, die die Firma am Laufen hielten, indem sie die Neulinge einarbeiteten und die schwierigen Aufgaben übernahmen, mit denen die Jungen nicht klarkamen.

Tief im Inneren kochte sie vor Wut, doch die Angst vor Veränderungen hielt sie fest. Kündigen? Wohin? Ihr Alter, das fehlende Ersparte, die Spezialisierung – alles schien gegen sie zu sprechen. Sie redete sich ein, dass „alle so lebten“, aber leichter wurde es nicht. Einziger Trost waren die Anrufe ihrer Tochter Katharina, die nach der Hochzeit nach München gezogen war. Gertraud klagte ihr ihr Leid – über die Arbeit, die Chefs, das Leben.

„Mama, lass dich nicht ärgern“, tröstete Katharina. „Dieser Lukas ist doch nur ein Aufschneider. Was hast du damit zu tun?“

„AchUnd während sie die Tür ihrer kleinen Wohnung schloss, wusste Gertraud, dass dies erst der Anfang war – der Anfang von allem, was noch kommen würde.

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