Manchmal ist Schweigen lauter als Schreie. Vor einem Jahr sagte meine Mutter zu mir: *“Du stehst mir im Weg.“* In diesem Moment brach etwas in mir—nicht laut, aber für immer. Jetzt ruft sie ständig an, kommt unangekündigt vorbei, wirft mir etwas vor und verlangt meine Aufmerksamkeit. Ihre Einsamkeit ist plötzlich meine Schuld. Ihre Leere—meine Pflicht. Doch irgendwie erinnert sich niemand mehr daran, wie alles begann…
Ich heiße Elke Müller. Ich komme aus Dresden. Ich habe einen Mann, einen kleinen Sohn, einen Job und diese Vergangenheit, über die ich immer noch nicht ohne Bitterkeit sprechen kann. Meine Kindheit roch nach Schnaps, war erfüllt von Geschrei hinter dünnen Wänden und den Tränen meiner Mutter. Mein Vater war Alkoholiker. Nicht das harmlose Feierabendbier—er soff, als gäbe es kein Morgen. Und dann kam die Wut. Schläge. Demütigungen. Ich betete, sie würde ihn verlassen. Flehte sie an, ihre Sachen zu packen und zu gehen. Doch meine Mutter blieb. Sie ertrug es.
Als ich an der Uni in Leipzig anfing, lebten wir nur noch zu zweit—mein Vater war endlich weg. Oder genauer: Er wäre weggeblieben, wenn nicht Oma gestorben wäre. Nach der Beerdigung reichte meine Mutter die Scheidung ein, und wir blieben in der Zweizimmerwohnung, die Oma uns je zur Hälfte vermacht hatte.
Ich zog ins Studentenwohnheim—sparte mir den Pendelstress und wollte etwas Unabhängigkeit. An den Wochenenden kam ich nach Hause, half, wo ich konnte. Doch als ich meinen Abschluss machte, heirateten mein Freund und ich. Plötzlich stellte sich die Frage: Wo sollten wir wohnen? Ich fasste mir ein Herz und fragte meine Mutter, ob wir vorübergehend bei ihr einziehen könnten. Immerhin war es auch mein Eigentum.
Ihre Antwort brannte sich in mein Gedächtnis:
*“Wann fange ich endlich an zu leben?! Ich hab genug gelitten—jetzt will ich MEIN Leben!“*
Ich diskutierte nicht. Weinte nicht. Ich ging einfach. Meine Schwiegermutter bot uns an, zu ihnen zu ziehen. Wir nahmen an. Damals dachte ich noch, sie wäre einfach müde. Hätte ein Recht darauf. Ich schluckte den Groll, trug ihn nicht nach außen. Ich hielt mich raus.
Dann wurde ich schwanger. Ungeplant, aber nicht ungewollt. Mein Mann nahm einen Nebenjob an, ich arbeitete remote. Wir kämpften uns durch. Meine Schwiegermutter wurde mein Schutzengel: half mit dem Baby, gab mir Schlaf, hielt mir den Rücken frei. Wir sparten auf eine eigene Wohnung. Es war hart, aber wir schafften es.
Meine Mutter? Sie meldete sich nicht. Nicht während der Schwangerschaft. Nicht nach der Geburt. Kein Anruf, kein Geschenk, nicht mal Interesse. Sie verschwand, als hätte es mich nie gegeben.
Doch plötzlich, nach einem Jahr, fing es an. Anrufe. Jeden Tag. Mal war ihr langweilig, mal ging es ihr schlecht, mal *“der Blutdruck“*, mal *“du meldest dich nie“*, mal *“ich bin dir egal“*. Sie tauchte unangemeldet auf, verlangte, dass ich mit ihrem Enkel vorbeikomme. Warf mir vor:
*“Ich habe dich großgezogen, und du willst nicht mal Zeit mit mir verbringen. Soll ich etwa allein alt werden? Undankbar bist du.“*
Da traf es mich. Nicht wegen ihrer Worte—sondern weil sie es sich leisten konnte, zu vergessen, wie sie mich wegstieß, als ich sie am meisten brauchte.
Sie fragte nie, wie es mir ging, als ich vor Angst vor der Geburt zitterte. Sie wollte nicht wissen, wie ich mit schlaflosen Nächten klarkam. Sie hielt mein Baby nie im Arm. Und jetzt verlangte sie Liebe, Anteilnahme, Wärme. Als wäre nichts gewesen. Als stünde ihr das zu.
Mein Mann sagt, wahrscheinlich ist ihre neue Beziehung in die Brüche gegangen. Dass die Einsamkeit sie an mich erinnerte. Dass ich jetzt ihr *“Projekt“* sei. Doch ich bin keine Puppe. Ich habe eine Familie. Mein eigenes Kind, Verantwortung, einen Job. Ich kann nicht der Seelentröster für jemanden sein, der mich einst aus seinem Leben strich.
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Schweigen tut weh. Streit will ich nicht. Aber still vergeben? Das kann ich nicht mehr. Eine Tochter zu sein heißt nicht, ein Opfer zu sein. Und Liebe lässt sich nicht einfordern—nicht von jemandem, den man selbst wegschubste.