**Tagebucheintrag**
Gestern hat unser Sohn gefordert, dass wir ein Testament aufsetzen sollen. Ich bin 56, mein Mann Günther 57.
Nie hätte ich gedacht, dass ein Gespräch mit meinem eigenen Sohn mir das Herz brechen könnte. Wir haben nur ein Kind – unseren Tobias, unser Stolz, unsere Liebe. Seit seiner Geburt lebten wir nur für ihn, gaben alles, was wir hatten: Zeit, Kraft, Träume. Wir wollten, dass es ihm an nichts fehlt – die beste Schule, ein warmes Zuhause, eine sichere Zukunft. Dafür opferten Günther und ich unsere eigenen Wünsche, arbeiteten bis zur Erschöpfung und sparten jeden Cent. Doch der gestrige Abend in unserem gemütlichen Haus in Freiburg stellte alles auf den Kopf.
Tobias kam mit ernster, fast strenger Miene zu uns. Er setzte sich gegenüber am alten Eichentisch im Wohnzimmer, als wolle er etwas Schicksalhaftes verkünden. Ein eisiger Klumpen Angst kroch mir in die Brust. »Mama, Papa, wir müssen über die Zukunft reden«, begann er, ohne uns anzusehen. »Ich finde, ihr solltet ein Testament machen.«
Ich erstarrte. Günther warf mir einen verstörten Blick zu, während mir der Boden unter den Füßen wegzusacken schien. Ein Testament? Wir sind doch noch voller Energie, planen eine Reise an die Ostsee, träumen von neuen Projekten – und unser Sohn spricht vom Tod? »Tobias, warum jetzt?«, brachte ich mühsam heraus und kämpfte gegen das Zittern in meiner Stimme. »Uns geht es gut, wir haben noch Zeit.« Doch er blieb hart. »Mama, das Alter spielt keine Rolle. Es muss geregelt sein, damit es später keine Probleme gibt. Ich muss wissen, was mir zusteht.«
Seine Worte schnitten wie ein Messer. Keine Spur von Sorge um uns, unsere Gesundheit oder unsere Pläne. Nur kühle Berechnung, als hätte er längst unser Erbe aufgeteilt, noch bevor wir gegangen sind. Ich sah ihn an – den Jungen, den wir mit so viel Liebe großgezogen hatten – und konnte es nicht fassen. Waren wir für ihn nur noch Besitzer eines Hauses, eines Autos und unseres Ersparten? Nicht Eltern, sondern eine Erbmasse?
Günther schwieg, starrte auf den Tisch, als suche er in den Holzmaserungen eine Antwort auf diesen Albtraum. Ich kämpfte gegen die Tränen, die mir in den Augen brannten. Wie konnte unser Sohn, den wir beschützt, dem wir alles gegeben hatten, nun nur noch das Materielle sehen? Ich erinnerte mich, wie ich nächtelang an seinem Kinderbett saß, wie Günther ihm das Radfahren beibrachte, wie wir uns über seine ersten Schritte und Worte freuten. Und jetzt saß er da, verlangte ein Testament, als stünden wir mit einem Fuß im Grab.
»Tobias«, sagte Günther endlich, mit ruhiger Stimme, doch ich hörte den Schmerz darin. »Wir haben uns immer um dich gekümmert. Alles, was wir haben, ist für dich. Aber jetzt davon zu reden… Als ob du die Zeit vorantreiben willst.« Unser Sohn runzelte die Stirn, als hätte er eine andere Reaktion erwartet. »Papa, ich will nur Klarheit«, erwiderte er gereizt. »Ich will keine Streitigkeiten später.«
Streitigkeiten? Mein Inneres zog sich vor Verletzung zusammen. Günther und ich hatten nie etwas aufgeteilt, immer für die Familie, für Tobias gearbeitet. Und nun redete er von Streit, als wären wir Fremde. In diesem Moment spürte ich, wie etwas zwischen uns zerbrach – wie dünnes Glas. Die Liebe, das Vertrauen, die Wärme, die wir jahrelang aufgebaut hatten, standen plötzlich infrage.
Ich versuchte, mich zu fassen. »Tobias«, sagte ich mit fester Stimme, »wir leben für dich, aber das heißt nicht, dass wir jetzt an den Tod denken müssen. Wir sind noch hier. Ist das nicht wichtiger?« Er zuckte mit den Schultern, als wären meine Worte bedeutungsleer. »Ich sorge nur vor«, warf er hin und ging, ließ uns in bedrückender Stille zurück.
Die Nacht war lang. Ich lag wach neben Günther, lauschte seinem Atem und fragte mich: Wo haben wir versagt? Haben wir Tobias zu sehr verwöhnt? Ihm zu viel gegeben, ohne zu lehren, was wirklich zählt? Am Morgen sagte Günther, als läse er meine Gedanken: »Er ist noch jung, Monika. Vielleicht versteht er nicht, wie das klingt.« Doch in seinen Augen sah ich denselben Schmerz.
Ein Monat ist vergangen, doch das Gespräch bleibt wie ein Dorn im Herzen. Tobias erwähnte das Thema nicht wieder, doch er meidet seither längere Gespräche. Als spüre er, dass er zu weit ging – aber er weiß nicht, wie er es wiedergutmachen soll. Und ich? Ich denke viel über das Leben nach, darüber, was wirklich wichtig ist. Günther und ich werden ein Testament aufsetzen – nicht für Tobias, sondern für unser eigenes Gewissen. Damit alles »geregelt« ist, wie er es nannte. Doch heimlich hoffe ich, dass er eines Tages begreift: Das wahre Erbe ist nicht Geld oder Besitz, sondern die Liebe, die wir ihm ein Leben lang geschenkt haben.
Das Leben in Freiburg geht weiter. Wir planen unsere Reise, lachen über alte Witze und freuen uns, wenn Tobias zu Besuch kommt. Doch jener Abend hinterließ eine Spur – bitter, doch lehrreich. Er erinnerte uns daran, dass die Zeit unaufhaltsam vergeht, und lehrte uns, jeden gemeinsamen Moment wertzuschätzen. Und Tobias? Vielleicht lernt er noch, dass Familie kein Vertrag ist, sondern eine Bindung – getragen von Liebe, nicht von Dokumenten.
**Was ich heute gelernt habe:** Manche Lektionen schmerzen, aber sie zeigen, worauf es wirklich ankommt.