Der ewig bleibende Bruch

— Du bist nicht mehr meine Schwester! — rief Silvia, ihre Stimme brach vor Tränen. — Ich hasse dich! Nimm deine Diebin und verschwinde!

— Weißt du was, Nadine? Eines Tages wirst du auf Knien um Vergebung flehen! — Nadines Gesicht glühte vor Wut. — Aber für mich bist du tot!

Mit diesen Worten packte Nadine ihre weinende Tochter am Arm, spuckte verächtlich aus und knallte die Tür hinter sich zu. Was in der Hitze des Streits gesagt worden war, war mehr als grausam – es wurde zur Realität. Silvia und Nadine sahen sich nie wieder. Länder änderten sich, Zeitalter vergingen, doch die Schwestern konnten ihre Wut nicht überwinden. Gab es überhaupt etwas, das vergeben werden konnte?

Die Zwillinge Silvia und Nadine waren wie zwei verschiedene Welten. Die ruhige, verschlossene Nadine stand immer im Schatten ihrer lebhaften, temperamentvollen Schwester. Kein Wunder – Silvia war fünfzehn Minuten früher geboren worden und trug stolz die Last der „älteren Schwester“, wie sie es selbst nannte.

Konflikte waren selten. Als sie mit neunzehn Jahren ihre Eltern verloren, wurde ihre Bindung enger. Doch das Leben zerstreut selbst die engsten Menschen. Silvia heiratete zuerst und zog nach München, in den pulsierenden Großstadtrhythmus. Nadine blieb in ihrem Heimatdorf Schönau, gründete später ebenfalls eine Familie. Trotz der Entfernung hielten sie Kontakt – Briefe, Anrufe, seltene Besuche hielten sie verbunden.

Nadine wurde zuerst Mutter. Ihre Tochter Lena, mit den gleichen braunen Augen und Grübchen in den Wangen, war ihr Ebenbild. Silvia hingegen konnte lange nicht schwanger werden. Erst nach zwölf Jahren Ehe bekam sie ihren Sohn Max – das ersehnte Kind, das zum Mittelpunkt ihres Lebens wurde.

Nadine und Lena besuchten oft München, brachten Geschenke vom Land: Säcke voller Äpfel, Gläser mit Himbeermarmelade, selbstgemachten Quark. Silvia murrte, nahm die Gaben aber dankbar an. „Max ist so dünn“, sagte Nadine stets, „der braucht mehr Sahne, echte Landware!“ Silvia seufzte, lächelte und fühlte sich in diesen Momenten wirklich glücklich.

Doch Unglück kommt oft unerwartet. Silvias Mann erlitt einen plötzlichen Herzinfarkt. Die Ärzte konnten nichts tun – es ging zu schnell. Ihre Welt brach zusammen. Nun war sie allein mit dem dreijährigen Max, etwas Erspartem und einer tiefen Leere im Herzen. Wie sollte sie weiterleben? Wie ihren Sohn ohne Vater großziehen?

Nadine versuchte, ihr beizustehen, doch was konnte sie gegen diesen Schmerz tun? Sie konnte nur da sein.

— Silvia, soll Lena bei dir wohnen? — schlug Nadine vor. — Sie hat die Schule abgeschlossen, der Sommer steht bevor. Sie kann auf Max aufpassen und im Haushalt helfen. Und du bist nicht so allein.

Nadine wäre selbst gern länger geblieben, doch zu Hause warteten der Hof und ihr Mann, der ohne sie nur Unsinn anstellte. Silvia durfte sie aber nicht allein lassen.

— Nadine, Lena ist wie eine Tochter für mich — antwortete Silvia. — Wenn sie will, kann sie bleiben.

— Lena will unbedingt! — strahlte Nadine. — Sie sagt, sie will in der Stadt Design studieren. Na ja, jung, alles liegt vor ihr. Unter deiner Aufsicht kann sie lernen und gleichzeitig helfen.

Silvia freute sich. Seit dem Tod ihres Mannes war die Wohnung so leer, die Einsamkeit nagte an ihr. Wenn Max schlief, ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Vielleicht würde Lena die Leere ein wenig füllen?

Die Nichte wurde tatsächlich ihre Rettung. Während Silvia arbeitete, holte Lena Max vom Kindergarten, kochte Abendessen und lernte. Das Leben normalisierte sich langsam.

Doch das Glück war zerbrechlich.

Die vierzig Tage nach dem Tod ihres Mannes standen bevor. Silvia wollte eine kleine Gedenkfeier ausrichten, doch das Geld reichte nicht. Der nächste Lohn kam erst in einer Woche. „Ich nehme von den Ersparnissen, lege es später zurück“, beschloss sie und griff nach der alten Teedose, in der ihr Mann Geld versteckt hatte.

Er hatte von einem neuen Auto geträumt und einen Sparplan erstellt. Doch jetzt brauchte sie das Geld zum Leben. „Er hätte es verstanden“, dachte Silvia, als sie die Dose öffnete. Sie erstarrte. Sie war leer.

Panik überkam sie. Wer hatte das Geld genommen? Wann? Silvia hatte die Dose seit einem halben Jahr nicht mehr geöffnet – erst war Max krank, dann die Tragödie mit ihrem Mann. Aber niemand wusste von dem Versteck! Wer würde in eine alte Teedose schauen?

Plötzlich wurde ihr klar. Nur jemand, der ihr sehr nahestand…

— Tante Silvia, ich habe die erste Prüfung bestanden! — rief Lena fröhlich von der Tür. — Noch zwei, dann bin ich Studentin!

Silvia antwortete nicht. Sie saß in der Küche, die leere Dose in der Hand, ihr Gesicht wie versteinert.

— Lena, sag mir die Wahrheit, wo ist das Geld? — Silvias Stimme zitterte vor Wut. — Hast du es ausgegeben? Oder jemandem gegeben? Sprich!

Lena erstarrte, verstand nicht.

— Was für Geld, Tante Silvia?

— Das, das du aus der Dose gestohlen hast! — Silvia warf die Dose gegen die Wand, knapp an Lena vorbei.

— Ich… ich weiß nicht… ich habe es nicht genommen! — Tränen strömten über Lenas Wangen.

— Wer dann? — Silvia hatte sich völlig verloren. — Du bist die einzige, die hier herumläuft!

In diesem Moment kam Nadine herein, früher als geplant, um bei der Vorbereitung zu helfen. Sie ließ ihre Taschen fallen, als sie den Streit hörte.

— Was ist los hier? — fragte sie, doch Silvia drehte sich bereits zu ihr.

— Ah, da bist du ja! — zischte sie. — Du hast eine Diebin großgezogen, jetzt steh dazu! Wenn ihr das Geld nicht sofort zurückgebt, gehe ich zur Polizei! Ihr kommt beide hinter Gitter!

Lena schluchzte, Nadine versuchte zu erklären, aber Silvia hörte nicht zu. Verletzung und Schmerz machten sie blind. Im Zorn trafen die Schwestern eine fatale Entscheidung – sie strichen sich aus ihrem Leben.

„Ich habe keine Schwester mehr“, dachte jede von ihnen, in ihrer Wut gefangen.

Silvia fühlte sich verraten. Je mehr sie Nadine und Lena beschuldigte, desto mehr wuchs ihr Hass. Wie konnten ihre engsten Vertrauten ihr das antun? Die Unterstützung war weg, sie stand allein gegen die Welt.

Die Zeiten wurden härter. Silvia arbeitete sich ab, doch das Geld reichte kaum. Wie sehr wünschte sie sich, Nadine anzurufen, von den Schwierigkeiten zu erzählen, von den Reformen, vom täglichen Überlebenskampf! Nadine wäre mit Geschenken und Wärme gekommen. Doch ihr Stolz war stärker.

Die Jahre vergingen in harter Arbeit. Silvia heiratete nicht wieder – dafür war keine Zeit. Max wuchs heran, zog mit achtzehn aus, studierte, heiratete. Nun war er ein erfolgreicher Anwalt, hatte fast die Hypothek abbezahlt, doch er besuchte seine Mutter selten – ihr schwieriger Charakter schreckte ab.

— Mama, warum gehst du nicht ans Telefon? — Max stürmte in die Wohnung, außer Atem. — Ich dachte schon, es wäre etwas passiert!

— Dein blödes Handy ist aus, ich weiß nicht, wie man es einschaltet! — murrte Silvia.

Max liebte seine Mutter trotz ihrer Nörgelei. Er rief jeden Tag an, und wenn sie nicht antwortete, eilte er zu ihr. Mit neunundsiebzig Jahren war Vorsicht geboten.

— Ich kümmere mich darum — sagte er sanftMax fand später unter dem alten Kalender ein vergilbtes Foto der Schwestern als Kinder und erkannte, wie viel Liebe sie einst verband – doch nun war es zu spät, und er konnte nichts tun, als den Verlust zu betrauern.

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Herz des Verrats