**Schatten der Vergangenheit: Ein Familiendrama um Maria**
Maria stieg die knarrende Treppe des alten Hauses in der Innenstadt von Windheim hinauf, schwere Tüten mit Mitbringseln in den Händen. Die Wohnungstür ihrer Tochter öffnete sich mit einem leisen Quietschen, und Lydia, ihre älteste Tochter, stand auf der Schwelle. Als sie die Mutter mit den vollen Taschen sah, runzelte Lydia die Stirn.
„Mama, warum bringst du so viel mit?“ rief sie und musterte Marias müdes Gesicht. „Das essen wir doch gar nicht, das weißt du!“
„Ich wollte euch verwöhnen“, antwortete Maria leise und versuchte zu lächeln. „Für Jutta und Markus – etwas Leckeres.“
Sie gingen in die Küche, wo der Geruch von angebrannten Suppe hing. Lydia warf die Tüten zu Boden und rief in die Wohnung:
„Jutta, komm, Oma ist da!“
Maria wollte sich die Hände waschen und ging Richtung Bad. Im schmalen Flur hörte sie plötzlich das leise Gespräch zwischen Lydia und ihrer Enkelin. Sie sprachen über sie. Marias Herz zog sich zusammen – sie erstarrte und lauschte, während jedes Wort sie wie glühendes Eisen traf.
Maria saß auf der Bank vor dem Haus und holte tief Luft. Daneben standen die Tüten voller Gemüse und selbstgemachter Vorräte aus ihrem Garten. Immer brachte sie ihrer Tochter und Enkelin etwas von zu Hause mit – Kartoffeln, Eingemachtes, Marmelade. Wie konnte es anders sein? In der Stadt aßen sie nur Fertiggerichte, Tiefkühlkost oder bestellten Essen. Maria seufzte. Die Reise war lang gewesen – stundenlang in der stickigen Regionalbahn, dann noch der Bus durch die staubigen Straßen von Windheim. Niemand hatte sie abgeholt, doch das hatte sie auch nicht erwartet. Gestern noch hatte sie Lydia angerufen, ihr Bescheid gesagt. Sie hatten sich so lange nicht gesehen, und ihr Herz sehnte sich nach der Tochter und der Enkelin.
„Mama, warum schleppst du immer so viel herum?“ wiederholte Lydia, als sie in der Wohnung waren. „Wir haben doch kaum Platz, wo soll das alles hin?“
„Ich bringe es nicht für mich mit“, antwortete Maria und sah ihre Tochter zärtlich an. „Das ist für Jutta und Markus. Geräucherter Speck, Gurken, Himbeermarmelade – Jutta liebt sie doch.“
Lydia stieß einen schweren Seufzer aus und hob eine der Taschen auf. Ihr Blick streifte die Mutter mit kaum verborgenem Ärger. Maria hingegen blickte sie voller Liebe an und erinnerte sich daran, wie sehr sie sich einst ein Mädchen gewünscht hatte. Zuerst war der Sohn gekommen, dann Lydia – das ersehnte Töchterchen. Ihr Sohn lebte längst in einer anderen Stadt, zu weit für regelmäßige Besuche. Lydia war hier, nur ein paar Stunden entfernt. Doch jedes Mal, wenn Maria kam, schien eine lastende Unbehaglichkeit in die Wohnung einzuziehen.
Lydia hatte Jutta direkt nach der Schule bekommen. Der Vater, ein zugezogener Ingenieur, war verheiratet und wollte nichts von dem Kind wissen. Seine Frau hatte Maria überredet, ihnen den ersten Sohn zu überlassen, den Lydia als Teenager geboren hatte. Noch heute schmerzte Maria der Gedanke an den Jungen. Er hatte ihrem Mann, dem Großvater der Mädchen, so ähnlich gesehen. Wie schwer war es gewesen, ihn wegzugeben! Doch Lydia zog in die Stadt, heiratete später Markus, bekam Jutta. Der Junge aber blieb in der fremden Familie, und wenn Maria an ihn dachte, zerriss es ihr das Herz.
Jutta kam aus ihrem Zimmer gelaufen – lockiges Haar, große Augen. Maria, die ihre Müdigkeit vergaß, wollte ihre Enkelin umarmen, doch diese wand sich ungnädig aus.
„Oma, bitte nicht“, murmelte Jutta und wich zurück.
„Du bist so groß geworden, mein Schatz.“ Maria lächelte und wischte sich eine Träne weg. „Ich habe dir eine Mütze gestrickt, warme Socken.“ Sie griff nach ihrer Tasche, doch Jutta war schon wieder verschwunden.
Am Esstisch herrschte Stille. Lydia stellte ihrer Mutter einen Teller mit Gemüseeintopf hin.
„Das ist alles. Ich kann noch Nudeln machen“, bot sie ohne große Begeisterung an.
Maria, hungrig von der Reise, nickte, doch sie fühlte sich immer unbehaglich bei ihrer Tochter.
„Ich hole schnell was von dem Mitgebrachten, dann essen wir richtig“, sagte sie und versuchte, die Stimmung aufzulockern.
Lydia verzog das Gesicht, schwieg aber. Maria aß den dünnen Eintopf – ohne Sahne, ohne Fleisch. Ein Stück Brot stillte den Hunger ein wenig, doch in ihr blieb eine Leere. Die Tüten standen unberührt in der Kücheenecke. Vielleicht hatten sie Geldprobleme, überlegte Maria. Heimlich schnitt sie sich eine Scheibe Speck, legte sie auf Brot mit Zwiebelringen und aß hastig, als fürchte sie, jemand könnte sie ertappen.
Abends kam Markus nach Hause. Er grüßte höflich, lud Maria aber nicht zum Essen ein. Sie saß in Juttas Zimmer, wo sie schlafen sollte. Die Enkelin, in ihr Tablet vertieft, nahm keine Notiz von ihr. Maria fühlte sich wie eine Fremde. Genau wie beim letzten Besuch – kühle Höflichkeit, peinliche Pausen.
Am nächsten Morgen eilten Lydia und Jutta zur Arbeit und Schule, Markus folgte kurz darauf. Maria blieb allein zurück. Um sich nützlich zu machen, machte sie Rührei, spülte den Berg Geschirr und begann zu putzen. Die Wohnung blitzte, doch ihr Herz war schwer vor Einsamkeit. Als Lydia heimkam, sagte sie ohne Blickkontakt:
„Mama, ich habe dir eine Fahrkarte für morgen besorgt. Damit du nicht anstehen musst. Du wolltest doch nicht lange bleiben.“
Maria war fassungslos. Sie hatte geplant, eine Woche zu bleiben, wie sie ihrem Mann versprochen hatte.
„Ich bin doch gerade erst gekommen“, stammelte sie. „Aber du hast recht. Es ist eng hier, und ich störe nur.“
Lydias Gesicht hellte sich auf, als fiele ihr eine Last von den Schultern. Und dann hörte Maria, wie Jutta sich beschwerte:
„Oma hat die ganze Nacht geseufzt und gewühlt. Ich konnte kaum schlafen.“
„Halte durch, morgen fährt sie heim“, flüsterte Lydia.
Die Worte trafen Maria wie ein Messer. Sie sah die mitgebrachten Gläser – sie standen noch immer unberührt in der Ecke. Die gestrickte Mütze und Socken hatte Jutta achtlos in den Schrank geworfen.
„Oma, sowas trägt doch kein Mensch mehr“, hatte sie genervt gesagt.
Maria lehnte sich an die Wand, Tränen brannten in ihren Augen. Die Nacht verbrachte sie regungslos, aus Angst, Jutta zu stören. Am nächsten Morgen brachte Markus sie wortlos zum Bahnhof. In ihrer Tasche lagen der Rest Speck und zwei Gläser – der Rest blieb bei Lydia. Maria lächelte bitter. Wenigstens etwas war willkommen.
Zuhause erwartete sie ihr Mann, Heinrich, herzlich und freudestrahlend.
„Mein Licht ist wieder da!“ rief er und nahm ihr die Taschen ab. „Hast du dich bei Lydia erholt?“
Maria zwang sich zu einem Lächeln.
„Unser Sohn hat angerufen“, fügte Heinrich hinzu. „Die ganze Familie kommt zu uns, vielleicht bleiben sie den ganzen Sommer!“
Zum ersten Mal seit Tagen spürte Maria wieder Wärme in ihrer Brust. Wenigstens für jemanden waren sie und ihr Mann noch wichtig. Sie blickte sich in ihrem vertrauten Zuhause um und dachte, dass Familie trotz allem Schmerz das Wichtigste im Leben war. Doch tief in ihrem Herzen wusste sie: Die Wunde, die Lydias Gleichgültigkeit gerissen hatteDoch sie würde lernen, dass manche Wunden niemals ganz verheilen, selbst wenn die Liebe eines Lebens niemals aufhört zu schlagen.