„Wo bist du, mein Kind? — Eine Geschichte eines Frühlings der Alterserinnerungen“

„Wo bist du nur, mein Junge…“ – eine Geschichte eines einsamen Frühlings

Elisabeth Schneider streckte ihre zitternde, von den Jahren gezeichnete Hand in den Briefkasten. Die Gelenke knackten, aber sie zog den einzigen Umschlag heraus – eine Postkarte. Der Rand war abgegriffen, auf dem Deckel blühten Blumen. „Zum Frauentag“, las sie mit müden Augen. Langsam öffnete sie sie, ihre Lippen bewegten sich fast lautlos, als fürchtete sie, die Wärme in den wenigen Zeilen zu verscheuchen.

„Mama, alles Gute. Bleib gesund. Ich komme bald. Dein Thomas.“

Sohn. Ihr einziger Junge. Ihr Tommy. Schon ergraut, längst erwachsen, selbst Vater. Doch in ihrem Herzen blieb er das Kind, dem sie die Schals band und die Hemden vor der Schule glattstrich.

Elisabeth drückte die Karte an ihre Brust und flüsterte:

»Bald… Er kommt bald…«

Wie in einem ritualisierten Ablauf setzte sie sich wieder auf das alte Sofa am Fenster. Durch die verblichene Gardine sah sie den Hof. Unverändert. Wie vor zwanzig, wie vor dreißig Jahren. Nur die Bäume waren höher, die Bänke schiefer.

Auf ihrem Schoß lag das Fotoalbum. Seine Schuluniform, sein Abiball, die Uni, die junge Braut mit dem Blumenstrauß. Sein Leben hatte sich vor ihren Augen abgespielt. Und jetzt? Stille. Nur vereinzelte Postkarten und Anrufe, in denen er immer »im Stress« war, »viel Arbeit« hatte, »ganz sicher am Wochenende« vorbeikommen würde. Die Wochenenden vergingen. Und sie wartete.

Als sie näher ans Fenster trat, bemerkte sie ein junges Mädchen. Es saß auf der Bank, starrte traurig die Straße hinunter. Minuten später kam ein Junge, redete, versuchte zu erklären. Sie wandte sich ab, schüttelte den Kopf. Dann Tränen. Er ging. Und sie blieb. Allein. Genau wie sie.

Elisabeth murmelte halblaut:

»Wir Frauen warten. Unser Leben lang. Erst auf die Väter, dann auf die Männer, dann auf die Söhne. Und immer seltener auf die Töchter. So ist unser Los…«

Erinnerungen kamen hoch. Wie sie auf ihren Mann von der Front gewartet hatte, wie sie nachts wachlag, wenn der Sohn im Ferienlager war. Wie sie im Frost zur Apotheke rannte, als er Fieber hatte. Alles für ihn. Ihr ganzes Leben – für ihn.

Auf dem Tisch stand alles bereit: Kirschkuchen, sein Lieblingsmarmelade, Kompott, Kartoffelsalat – wie früher. Das Tischtuch gebügelt, sogar die Teller standen schon. Nur saß niemand am Tisch.

Tränen fielen auf die Karte. Sie drehte sich vom Fenster weg – und plötzlich brach es aus ihr heraus:

»Ich will nicht allein sein! Nicht wieder! Nur diesmal – nicht!«

Sie sprang auf, griff nach dem Tuch, warf den Mantel über und ging hinaus. Auf die Bank zu, wo das Mädchen immer noch saß. Die junge Frau schrak leicht zusammen.

»Verzeihen Sie«, flüsterte Elisabeth. »Ich bin nicht verrückt. Ich sah Sie nur und dachte… Vielleicht sind Sie heute auch allein. Kommen Sie mit? Ich habe Tee, Kuchen. Einfach… Gesellschaft.«

Das Mädchen stutzte:

»Es tut mir leid, aber… Mein Freund… Er ist gerade… Trotzdem, danke. Das ist lieb. Aber…«

»Schon gut«, lächelte Elisabeth sanft. »Macht nichts. Ich dachte nur… Vielleicht wären wir heute nicht einsam. Alles Gute.«

Langsam stieg sie die Treppe hinauf. Ihr Herz klopfte wie vor einer Prüfung. Im Flur war es dunkel. Doch da – eine Silhouette an der Tür. Sie blinzelte – und ihr Herz stockte. An der Wand lehnte ein Mann. Unrasiert, erschöpft, als wäre er weit gereist.

Er hörte ihre Schritte, öffnete die Augen. Und lächelte. Leise, wie als Kind, flüsterte er:

»Mama… Na, hallo.«

Sie konnte die Tränen nicht mehr halten. Ihre Hände zitterten, und ihre Stimme, so brüchig und zart, brach hervor:

»Du bist da… Mein Junge ist da…«

Und plötzlich hatte alles wieder Sinn. Das Warten, die Einsamkeit, die leeren Fenster – alles vergessen. Denn das Wichtigste war passiert. Sie hatte gewartet – und er war gekommen.

Оцените статью
„Wo bist du, mein Kind? — Eine Geschichte eines Frühlings der Alterserinnerungen“
«Wo bist du, Sohn? – Eine Geschichte eines alten Frühlings»