Karin blätterte durch alte Sachen im Zimmer ihres Sohnes, als sie hinter einem Stapel Bücher eine vergilbte Postkarte entdeckte. In kindlicher Schrift stand dort: „Mama, du bist mein Ein und Alles!“ Sie drückte die Karte an ihre Brust, spürte, wie ihr Herz vor plötzlichem Schmerz zusammenzog. An die kühle Wand gelehnt, rutschte sie langsam zu Boden, und die Tränen brachen wie ein Dammbruch hervor. Der Kummer, den sie so tief in sich vergraben hatte, überflutete sie erneut.
Es waren bereits sieben Jahre vergangen, seit sie ihren einzigen Sohn, Timo, verloren hatte. Erst jetzt traute sie sich, seine Sachen anzufassen, die Erinnerungen an ihn bewahrten. Diese einfache, aber lebendige Karte riss ihr das Herz auf. Sie hätte schreien mögen, all den Schmerz hinausschreien, der sie innerlich verbrannte. Ihr fiel ein, wie Timo gerade erst fünfzehn geworden war…
„Ich werde dich nie als Erwachsenen sehen, nie deine Kinder kennenlernen…“, flüsterte sie und blickte durch das Zimmer. Seine Lieblingsbücher standen im Regal, sein altes Handy lag auf dem Tisch, zwischen verstreuten Schulheften. Alles sah aus, als wäre er nur kurz rausgegangen und würde gleich mit seinem strahlenden Lächeln zurückkommen.
Plötzlich tauchte die Erinnerung an jenen verhängnisvollen Tag auf, der ihr Leben umgekrempelt hatte. Timo war mit Freunden zum Wandern in die Alpen gefahren. Eine Woche lang war alles ruhig, doch an jenem Morgen weckte sie ein unerklärliches Unbehagen. Die Dämmerung hatte kaum begonnen, und doch schlug ihr Herz schon wild. Die Stille im Haus fühlte sich unheimlich an, und sie griff zum Telefon, um die bösen Gedanken zu vertreiben.
„Ich rufe lieber an, nur um sicherzugehen“, beschloss sie und wählte Timos Nummer. Doch die Leitung summte endlos. Immer wieder versuchte sie es, doch niemand meldete sich. Bis zum Mittag hatte sie alle seine Freunde angerufen – und erfuhr die grausame Wahrheit: Ihr Sohn war beim Sonnenaufgang von einer Felsklippe gestürzt. Keiner wusste, warum er allein dort gewesen war. Als seine Freunde seinen Schrei hörten, war es zu spät. Timo war fort.
„Mein Junge, wie soll ich ohne dich weiterleben?“, flüsterte Karin in die Leere. „Wozu brauche ich dieses Leben noch?“
Sie erinnerte sich an den Tag der Beerdigung. Sie und ihr Mann kehrten in ein leeres, eiskaltes Haus zurück, das mit ihrem Sohn gestorben schien. Eine unsichtbare Mauer trennte sie von ihrem Mann. Kein Wunder, dass er bald seine Sachen packte und ging, mit nur einem Satz: „Hier hält mich nichts mehr.“
„Mich auch nicht“, wiederholte sie tonlos, als sie ihm nachblickte. Der Boden unter ihren Füßen verschwand, und Karin stürzte in bodenlose Dunkelheit. Sie suchte Halt, aber es gab nur Leere. Ein Teil ihrer Seele starb in diesem Moment. Sie versuchte weiterzumachen, wagte sogar neue Beziehungen – doch die Kraft war längst verbraucht.
Und heute hatte sie ihren Job verloren. Nicht einmal die Miete konnte sie jetzt noch bezahlen. Karin öffnete die Postkarte erneut, und stille Tränen tropften auf die verblassten Worte. Der Gedanke an einen Ausweg erschien ihr beinahe verlockend. Keine Angst, nur Mitleid mit sich selbst.
„Lebe für mich, Mama“, sagte plötzlich Timos Stimme, so klar und echt, dass sie zusammenzuckte. Das konnte keine Einbildung sein.
„Wie soll ich leben, wenn du nicht da bist?“, flüsterte sie und suchte mit den Augen den Raum ab. „Ich bin ganz allein.“
„Du bist nicht allein. Ich bin immer bei dir“, fuhr die Stimme fort. „Es tut mir weh, wenn du mich nicht loslassen kannst und so denkst. Wenn du gehst, finde ich niemals Frieden. Lass mich gehen, Mama. Lebe, bete für mich. Wenn du glücklich bist, bin ich es auch. Aber wenn du leidest, wird auch meine Qual unerträglich. Lebe für mich – und für die, die dich brauchen.“
„Wie kann ich ohne dich glücklich sein?“, würgte sie zwischen Tränen.
„Du musst. Gib all die Liebe, die du für mich hattest, denen, die in dein Leben treten. Meine Zeit war kurz – so war es bestimmt. Aber dein Schicksal ist es, jemanden glücklich zu machen.“
„Wen?“, rief sie fast, doch keine Antwort kam. Der Raum begann zu schwanken, und als Karin die Augen schloss, fühlte sie sich in einen dunklen Wirbel gezogen. Als sie wieder zu sich kam, saß sie noch immer am Boden, die Karte in der Hand. Ein Sonnenstrahl streichelte ihr Gesicht, und in ihr kehrte erstmals seit Langem Ruhe ein. In ihrem Kopf hallte es nach: *Lebe für mich, Mama.*
An diesem Tag fasste sie den Mut, Timos Sachen endgültig zu sortieren. Mit jedem Gegenstand verabschiedete sie sich innerlich, doch spürte sie seine Nähe. Die Dinge gab sie Nachbarn mit Teenagern – und der Schmerz im Herzen wurde etwas leichter. Sie öffnete das Fenster, atmete die frische Herbstluft ein, durchzogen vom Duft fallender Blätter, und kneifte die Augen gegen die Sonne zusammen.
Am nächsten Tag fuhr sie zum Friedhof. Ein leichter Nieselregen fiel, und die Kälte kroch ihr unter die Haut.