Leb weiter, Mama, so lange du kannst!

Annemarie Schmidt saß am Tisch und blickte aus dem Fenster, wo hinter dem schiefen Zaun ihre Schwiegertochter und Enkelin tuschelten und bissige Worte über sie warfen. Die Familie hatte sich gegen sie verschworen, weil sie sich nicht dazu bewegen ließ, ihr Haus zu verkaufen, das sie verächtlich als „Schuppen“ bezeichneten.

„Die Alte klammert sich an ihr Land! Denkt nur an sich!“, schrie die Enkelin.
„Ihr ganzes Leben hat sie nur genommen, nie etwas für ihren Sohn getan!“, zischte die Schwiegertochter, wohl wissend, dass Annemarie sie hören konnte. „Wenigstens für die Enkelin hätte sie sich einsetzen können!“

Die Worte der Schwiegertochter brannten, doch es waren die der Enkelin, die ihr das Herz brachen. Annemarie hatte solch bitteren Groll nicht von ihrem eigenen Fleisch und Blut erwartet. „Wie sie sich verwandelt haben“, dachte sie und wischte sich eine Träne fort. Wäre ihr Mann noch am Leben, hätte er so etwas niemals zugelassen. Doch Heinrich war längst nicht mehr da, und sie stand allein gegen ihre Familie, die ihr fremd geworden war.

Annemarie war zweiundsiebzig. In ihrem Alter arbeitete sie noch immer im Garten, jätzte Beete, kochte Marmelade ein und bereitete Vorräte für den Winter. Das Haus und das Land, das sie von ihren Eltern geerbt hatte, waren ihre Welt. Hier hatte sie ihre Kindheit, Jugend und die Jahre der Ehe verbracht, hier wollte sie ihr Alter verbringen.

Dorf, in dem ihr Haus stand, war einst fünfzehn Kilometer von der Stadt entfernt gewesen. Die Busse fuhren selten, und die Städter nannten den Ort abfällig „die Pampa“. Annemarie hatte nie verstanden, warum. Sie liebte ihr Haus, die Natur, den Fluss, die Beeren und Pilze. Das Leben hier war einfach, aber reich.

Mit der Zeit breitete sich die Stadt aus. Felder wurden zu Wohnvierteln, der Boden wurde wertvoll. Häuser wurden aufgekauft, abgerissen, durch Villen ersetzt. Das Dorf wurde Teil der Stadt: Es gab Geschäfte, asphaltierte Straßen, Arbeitsplätze. Das Leben wurde bequemer, doch Annemarie hatte sich nie beschwert. Dieses Haus war ihre Wurzeln, ihre Seele.

Als sie Heinrich heiratete, gab es keine Frage, wo sie leben würden. Das Elternhaus war geräumig, es gab Platz genug. Ihre Schwiegermutter drängte sie in die Stadt, pries die Vorzüge des Stadtlebens, als ob die Menschen hier nur dahinvegetierten. Doch Annemarie wusste: In einer engen Einzimmerwohnung mit den Schwiegereltern würden Streitigkeiten unvermeidlich sein. Ihre Mutter lachte nur über die Schwiegertochter:

„Wir haben hier Natur, frische Luft, unser eigenes Gemüse und Obst!“

Die Schwiegermutter winkte ab: Gurken könne man auch im Supermarkt kaufen. Doch mit der Zeit begriff auch sie, wovon Annemaries Mutter sprach.

Die Schwiegermutter war eine gute Frau. Als Annemarie und Heinrich ihren Sohn Friedrich bekamen, nahm sie sich Urlaub und kam, um zu helfen. Annemaries Mutter war zunächst beleidigt, doch dann gab sie nach – der erste Enkel, alle freuten sich. Friedrich wuchs in den Armen zweier Omas auf. Die Schwiegermutter wurde eine häufige Besucherin, und das Haus war erfüllt von Wärme.

Annemarie erinnerte sich mit Wehmut an die Sommer. Im August saßen sie, ihre Mutter und die Schwiegermutter auf der Veranda, planten den Tag, ernteten, kochten Marmelade, machten Maultaschen. Gelächter erklang ununterbrochen. Die Männer reparierten nach dem Angeln etwas im Haus. Abends sprach man am großen Tisch über alles unter der Sonne. Es schien, als wäre das Leben endlos.

Doch der Winter brachte stets Unruhe. Annemarie mochte die kalte Jahreszeit nicht, ein unerklärliches Gefühl des Unbehagens überkam sie. Später verstand sie: Es war eine Ahnung.

Der erste, der ging, war der Schwiegervater. Er rutschte auf dem Eis aus, schlug mit dem Kopf gegen den Bordstein. Die Verletzung war tödlich. Die Schwiegermutter schrie auf dem Friedhof so verzweifelt, dass Annemarie zum ersten Mal hörte, wie echte Qual klang. Innerhalb von Wochen vergreiste die Frau, ihre Augen wurden leer. Annemaries Mutter bestand darauf, dass die Schwiegermutter zu ihnen zog.

„Hätte ich meinen Mann verloren, wäre ich wahnsinnig geworden“, sagte sie. „Nahestehende sind da, um einander vor dem Wahnsinn zu bewahren.“

Die Schwiegermutter kam im Frühjahr. In der Stadtwohnung erinnerte alles an ihren Mann. Sie fand Arbeit in der örtlichen Geflügelfarm, wo schon Annemarie und ihre Mutter arbeiteten. Man lebte in Eintracht, ohne Streit. Doch seitdem quälte Annemarie die Angst, Heinrich oder Friedrich zu verlieren. Der Gedanke an ein Leben ohne sie schnürte ihr die Kehle zu.

Der zweite, der ging, war Annemaries Vater. Beim Schneeschaufeln starb er an einem Herzinfarkt. Ohne Heinrich und die Schwiegermutter hätte Annemarie es nicht geschafft. In der Familie blieb nur ein Mann übrig – ihr Ehemann. Er übernahm alle anstrengenden Arbeiten. Mutter und Schwiegermutter, beide Witwen, schlossen Freundschaft und stützten sich gegenseitig. Der Schmerz wurde erträglich, doch er verschwand nie.

Friedrich wurde von den Großmüttern verwöhnt. Er wuchs gutmütig, aber selbstsüchtig auf, gewöhnt daran, dass alles Beste für ihn war. Annemarie bemerkte nicht, wann ihr Sohn begann, nur an sich zu denken. Sie gab sich die Schuld: Wie konnte ein Kind, das von Liebe umgeben war, so werden?

Als Friedrich heiraten wollte, erklärte er, nicht mit den Eltern zusammenleben zu wollen. Seine Braut, Luise, fand das untragbar. Auf den ersten Blick wirkte das Mädchen bescheiden, doch ihr gesenkter Blick, als ob sie sich schämte, ließ Annemarie misstrauen. Sie erinnerte sich an ihre eigene Jugend, wie schüchtern sie vor den Schwiegereltern gewesen war, und schob die Zweifel beiseite. Die beiden zogen in eine Stadtwohnung, ein Geschenk von Friedrichs Schwiegermutter. Auf der Hochzeit wünschte Annemarie ihnen unter Tränen alles Gute. Doch sie bemerkte das höhnische Lächeln von Luise, ihre Ungeduld, als sie die Schlüssel betrachtete.

Annemarie sprach mit ihrem Mann darüber, doch Heinrich winkte ab:

„Eltern bilden sich immer etwas ein, wenn die Kinder heiraten. Sie war bloß nervös.“

Annemarie nahm sich vor, nicht schlecht von der Schwiegertochter zu denken. Als ihre Mutter erkrankte, war anderes wichtig. Sie pflegte sie, dann die Schwiegermutter, ohne zu klagen. Beide holte das Alter, wie Heinrich sagte, um sie zu trösten. Annemarie trauerte, doch wusste: So war das Leben.

Friedrich besuchte seine Eltern einmal im Monat. Annemarie bereitete sich vor: packte Gemüse, Obst, Eingemachtes ein. Heinrich brachte Fleisch vom Hof. Friedrich nahm alles als selbstverständlich hin, begann aber, im Haushalt zu helfen, auch wenn er schnell zu seiner Frau zurückwollte. Annemarie träumte davon, dass er öfter käme, wagte aber nicht, darum zu bitten.

Als die Enkelin, Marlene, geboren wurde, änderte sich alles. Friedrich und Luise kamen jede Woche. Annemarie, inzwischen in Rente, nahm das Mädchen im Sommer zu sich, pflegte es wie eine Tochter. Die Familie rückte näher zusammen: man grillte, badete im Fluss. Doch in Liuses Augen lag ein Groll, den Annemarie nicht verstand.

Einmal beklagte Luise sich, dass die Wohnung zu eng sei. Annemarie bot an, zu ihr zu ziehen, doch die Schwiegertochter rollte nur die AugenDoch als Friedrich eines Abends allein kam, setzte er sich zu ihr, nahm ihre Hand und sagte leise: „Du musst nichts verkaufen, Mutter – dieses Haus ist dein Leben, und wir werden dich niemals darum bitten, es aufzugeben.“

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