Lebe für mich

Karin sortierte gerade die alten Sachen im Zimmer ihres Sohnes, als sie hinter einem Stapel Bücher eine vergilbte Karte entdeckte. In kindlicher Schrift stand darauf: »Mama, du bist mein Ein und Alles!« Sie drückte die Karte an ihre Brust, spürte, wie ihr Herz plötzlich vor Schmerz zusammenzuckte. Sie lehnte sich an die kühle Wand, rutschte langsam zu Boden, und die Tränen brachen wie eine Flut aus ihr heraus. Der Kummer, den sie tief in sich vergraben hatte, überwältigte sie aufs Neue.

Sieben Jahre waren vergangen, seit sie ihren einzigen Sohn, Jonas, verloren hatte. Erst jetzt traute sie sich, seine Sachen anzufassen, die voller Erinnerungen an ihn waren. Diese Karte, so einfach und doch so lebendig, zerriss ihr das Herz. Sie wollte schreien, den Schmerz hinauslassen, der sie innerlich verbrannte. Ihr fiel ein, wie Jonas gerade erst fünfzehn geworden war …

»Ich werde dich nie als Erwachsenen sehen, nie deine Kinder kennenlernen …«, flüsterte sie und blickte sich im Zimmer um. Seine Lieblingsbücher standen im Regal, auf dem Tisch lagen sein altes Handy und verstreute Hefte. Alles wirkte, als wäre er nur kurz rausgegangen und würde gleich mit seinem strahlenden Lächeln zurückkommen.

Dann erinnerte sie sich an den Tag, der ihr Leben zerstört hatte. Jonas war mit Freunden zum Wandern in die Alpen gegangen. Die Woche verlief ruhig, doch an jenem Morgen wachte Karin mit einem unerklärlichen Gefühl der Angst auf. Die Sonne war kaum aufgegangen, doch ihr Herz schlug wie wild. Die Stille im Haus wirkte unheilvoll, und sie griff nach dem Telefon, um sich zu beruhigen.

»Ich rufe besser an, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist«, dachte sie und wählte Jonas’ Nummer. Doch es klingelte nur endlos. Sie rief wieder und wieder an – keine Antwort. Bis zum Mittag hatte sie alle seine Freunde kontaktiert und erfuhr die schreckliche Wahrheit: Ihr Sohn war beim Sonnenaufgang von einer Klippe gestürzt. Niemand wusste, warum er allein dort gewesen war, doch als seine Freunde seinen Schrei hörten, war es schon zu spät. Jonas war tot.

»Mein Junge, wie soll ich ohne dich leben?«, flüsterte Karin und starrte ins Leere. »Wozu brauche ich dieses Leben noch?«

Sie erinnerte sich an den Tag der Beerdigung. Sie und ihr Mann kamen in ein leeres, kaltes Haus zurück, das mit ihrem Sohn gestorben schien. Die Kälte kroch ihr in die Knochen, und zwischen ihnen und ihrem Mann stand eine unsichtbare Mauer. Kein Wunder, dass er bald seine Sachen packte und ging. »Hier hält mich nichts mehr«, waren seine letzten Worte.

»Mich auch nicht«, wiederholte sie leise, als sie ihm nachblickte. Da versank der Boden unter ihr, und Karin fiel in eine bodenlose Finsternis. Sie suchte Halt, doch es gab nur Leere. Ein Teil ihrer Seele starb in diesem Moment. Sie versuchte weiterzuleben, wagte sogar neue Beziehungen – doch die Kraft fehlte.

Und heute hatte sie ihren Job verloren. Das Geld würde nicht einmal für die Miete reichen. Karin öffnete die Karte erneut, und stille Tränen tropften auf die verblassten Buchstaben. Sie dachte daran, sich das Leben zu nehmen. Keine Angst – nur Mitleid mit sich selbst.

»Lebe für mich, Mama«, hörte sie plötzlich Jonas’ Stimme, so klar und echt, dass sie zusammenzuckte. Das konnte nicht ihre Einbildung sein.

»Wie soll ich leben, wenn du nicht mehr da bist?«, flüsterte sie und suchte mit den Augen den Raum ab. »Ich bin ganz allein.«

»Du bist nicht allein. Ich bin immer bei dir«, sagte die Stimme weiter. »Es tut mir weh, wenn du mich nicht loslassen kannst und so etwas denkst. Wenn du gehst, finde ich nie Frieden. Lass mich gehen, Mama. Lebe, bete für mich. Wenn du glücklich bist, bin ich es auch. Doch wenn du leidest, wird mein Schmerz unerträglich. Lebe für mich – und für die, die dich brauchen.«

»Wie kann ich ohne dich glücklich sein?« Die Tränen schnürten ihr die Kehle zu.

»Du musst. Gib all die Liebe, die du für mich hattest, denen, die in dein Leben treten. Meine Zeit war kurz – so war es bestimmt. Dein Schicksal ist es, jemand anderen glücklich zu machen.«

»Wen denn?«, rief sie fast, doch keine Antwort kam. Der Raum drehte sich, und Karin schloss die Augen, als sie in einen dunklen Strudel gezogen wurde. Als sie aufwachte, saß sie noch immer auf dem Boden, die Karte in der Hand. Sonnenstrahlen streichelten ihr Gesicht, und in ihrem Herzen kehrte zum ersten Mal seit Langem Ruhe ein. In ihren Gedanken hallte es nach: »Lebe für mich, Mama.«

An diesem Tag begann sie, Jonas’ Sachen auszusortieren. Mit jedem Gegenstand verabschiedete sie sich innerlich von ihm, doch sie spürte, dass er blieb. Sie gab die Dinge Nachbarn mit Teenagern, und der Schmerz in ihrem Herzen ließ etwas nach. Sie öffnete das Fenster, atmete die frische Herbstluft ein, die nach Laub duftete, und kneifte die Augen vor der gleißenden Sonne zusammen.

Am nächsten Tag fuhr sie zum Friedhof. Ein leichter Regen fiel, und die Kälte durchdrang sie bis auf die Knochen.

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