„Hallo, mein Kind, ich bin hingefallen… Bitte komm und hilf mir.“ Ich wusste nicht, was ich antworten sollte.
Dieser Tag begann wie jeder andere. Morgenroutine, Büro, eine warme Tasse Kaffee und das monotone Warten auf Neuigkeiten aus der IT-Abteilung: Das System war abgestürzt, und niemand konnte weiterarbeiten. Normalerweise ein Grund zum Ärgern, doch an diesem Tag seufzte ich fast erleichtert vor dem Bildschirm: Endlich eine Stunde, in der ich nicht denken, entscheiden oder hetzen musste. Ich scrollte gedankenlos durch mein Handy, als es plötzlich klingelte.
Eine unbekannte Nummer. Die Stimme am anderen Ende – zitternd, leise, mit kaum unterdrückter Qual:
„Hallo… Mein Kind? Bist du es?… Ich bin gefallen… Bitte komm… Es tut so weh…“
Ich erstarrte. Die Stimme war mir fremd. Und doch konnte ich nicht auflegen. Ein Gedanke blitzte auf: Vielleicht ein Irrtum? Vielleicht ging es ihr wirklich schlecht, und ich war ihre letzte Hoffnung?
„Entschuldigung… Wer sind Sie? Sie müssen sich verwählt haben…“, sagte ich vorsichtig.
Dann – Stille. Und schließlich ein flüsterndes:
„Verzeihen Sie… Ich dachte, es wäre meine Tochter… Aber wenn Sie könnten… Bitte helfen Sie mir. Ich liege hier. Der Fuß… ich glaube, er ist gebrochen. Ich kann nicht aufstehen.“
Ich zögerte nicht lange. Fragte nach ihrer Adresse. Es war nur ein paar Straßen vom Büro entfernt. Meiner Chefin sagte ich kurz Bescheid, dass ich wegmusste, und rief unterwegs den Notarzt.
Die Tür ihrer Wohnung stand unverschlossen – sie musste sie offen gelassen haben, in der Hoffnung, dass jemand käme. Im Flur lag eine ältere Frau auf dem Boden. Ihr Blick war von Schmerz getrübt, eine Hand umklammerte ihr Knie, das bereits anschwoll und sich blau färbte. Sie hieß Elfriede Schneider. Sie hatte versucht, Staub von einem hohen Schrank zu wischen, war auf einen wackeligen Hocker gestiegen – und dann gestürzt.
Ich kniete mich neben sie, nahm ihre Hand. Kalt. Zitternd.
„Alles wird gut. Sie sind nicht allein. Der Arzt kommt gleich. Halten Sie noch durch.“
Sie schluchzte leise. Ich legte ein feuchtes Tuch auf ihr Knie, strich ihr über das Haar, blieb einfach da – bis der Krankenwagen kam. Als sie auf der Trage lag, fand ich in ihrem Telefon den Kontakt „Meine Lena“ und rief an. Erklärte, in welche Klinik sie gebracht wurde, sagte, ich würde die Tür abschließen und den Schlüssel in den Briefkasten werfen.
Zurück im Büro zitterte ich. Zuerst vom Adrenalin. Dann von den Gedanken. Was, wenn ich nicht rangegangen wäre? Wenn ich aufgelegt hätte, weil ich dachte, es wäre ein Irrtum? Was dann? Wie lange hätte sie allein auf dem kalten Boden liegen müssen?
Am nächsten Tag besuchte ich Elfriede im Krankenhaus. Ihr Fuß war eingegipst, doch sie lächelte. Wir sprachen. Später lernte ich ihre Tochter Lena kennen. Heute sind unsere Familien befreundet, und ich übertreibe nicht, wenn ich sage: Es waren zwei der herzlichsten, aufrichtigsten Frauen, die ich je getroffen habe.
Manchmal denke ich an diesen Anruf zurück. An die zitternde Stimme, an das Wort „mein Kind“, das ins Leere gesprochen wurde. Wie eine falsche Nummer zwei Welten verband. Und wie wichtig es ist, einfach da zu sein. Selbst für einen Fremden.
Und ich hoffe inständig: Falls jemand aus meiner Familie je in so eine Situation gerät – dass dann auch jemand da ist, der sagt: „Ich bin bei Ihnen. Ich helfe.“