„Wir halfen der Nachbarin und erhielten eine Beschwerde. Ist das etwa Dankbarkeit?“

– Vor Kurzem kam ein Sozialarbeiter zu uns – erzählt die 35-jährige Sabine mit bitterer Stimme. – Er sagte, es gäbe eine Beschwerde: Unsere Kinder würden angeblich unter unzumutbaren Bedingungen leben, und er müsse das prüfen. Er kontrollierte den Kühlschrank, die Wohnung, beobachtete die Kinder – alles in Ordnung. Er füllte ein paar Formulare aus, bat mich, sie zu unterschreiben, und verschwand.

Sabine und ihr Mann, Markus, sind seit langem verheiratet. Sie haben zwei Kinder: den achtjährigen Sohn Niklas und die fünfjährige Tochter Lina. Die Kinder sind wohl erzogen, hören auf ihre Eltern, und in der Familie herrschen Liebe und Harmonie. Sabine konnte sich nicht erklären, wer und warum jemand eine solche Beschwerde gegen sie eingereicht hatte.

Die Eltern befragten die Kinder: Ist in der Schule und im Kindergarten alles in Ordnung? Die Kinder nickten nur, erzählten nichts Verdächtiges. Zum Glück blieb es ohne Folgen, doch die Frage, wer so etwas getan hatte, ließ Sabine keine Ruhe.

Eine Woche später traf sie Jana, die Enkelin ihrer Nachbarin. Ihr Verhältnis war angespannt: Sie hatten sich nur einmal gesehen, und dieses Treffen endete im Streit.

Janas Großmutter, Tante Helga, war begeistert gewesen, als Sabine und Markus in ihr Haus in Dresden gezogen waren. Sie kam oft zum Tee vorbei, brachte selbstgebackene Kuchen mit. Tante Helga hatte auf Niklas aufgepasst, als er noch klein war und das einzige Kind der Familie. Sabine und Markus revanchierten sich: Sie reparierten Dinge in ihrer Wohnung, brachten Lebensmittel und Medikamente, luden sie sogar zu sich in den Schrebergarten ein.

Als Tante Helga krank wurde und bettlägerig war, wurde Sabine ihr Schutzengel. Sie kam jeden Tag, putzte, kochte, half mit der Hygiene. Auch der Sozialarbeiter besuchte die Nachbarin, doch seine Besuche waren rein formell – er konnte der alten Frau nicht so viel Zeit widmen. Verwandte hatte Tante Helga, doch es war, als gäbe es sie nicht – sie tauchten seit Jahren nicht auf.

– In acht Jahren kam kein einziger Verwandter – erinnert sich Sabine. – Ich war mir sicher, Tante Helga hätte niemanden. Wir gaben unser eigenes Geld für ihre Medikamente aus – ihre Rente reichte gerade mal für die Nebenkosten. Wir wechselten uns ab, aber wir haben eine eigene Familie, eigene Sorgen. Irgendwann merkte ich, dass wir überfordert waren. Da beschloss ich, ihre Familie ausfindig zu machen.

Sabine fragte Tante Helga nach ihren Kontakten und bekam die Nummer ihrer Tochter, Karin, und ihrer Enkelin Jana. Sie fand Karin in den sozialen Medien und schrieb ihr, flehte sie an, zu kommen, da es Tante Helga immer schlechter ging. Natürlich erzählte Sabine das auch ihrer Nachbarin.

Tante Helga war außer sich vor Freude: Sie hatte ihre Tochter und Enkelin seit 15 Jahren nicht gesehen. Das letzte Mal war Jana zu Besuch gewesen, als sie sieben war. Damals hatte Karin verlangt, die Wohnung ihrer Mutter zu verkaufen, doch Tante Helga weigerte sich. Die Tochter war ausgerastet, hatte ihre Mutter beschimpft und jeden Kontakt abgebrochen.

Am nächsten Tag kam Karin. Doch statt Dankbarkeit überhäufte sie Sabine mit Vorwürfen. Sie sagte, Sabine kümmere sich nur um ihre Mutter, um an die Wohnung zu kommen. Außerdem deutete Karin an, Sabine vergifte die alte Frau, damit sie schneller sterbe und die Wohnung frei werde.

– Sie schrie, ich sei eine Betrügerin, hätte mich in das Vertrauen ihrer Mutter geschlichen! – erinnert sich Sabine voller Schmerz. – Markus stellte sich schützend vor mich und befahl ihnen zu gehen. Karin und Jana verschwanden, doch zum Abschied zischte Jana: „Mama und ich sorgen dafür, dass Sie ins Gefängnis kommen. Warten Sie nur ab, Sie Gauner! Wir werden Sie loswerden!“

Als Sabine Jana wiedersah, wurde alles klar. Sie war es, die die Beschwerde beim Jugendamt eingereicht hatte.

– Ich wollte nur Tante Helga helfen – sagt Sabine, und ihre Stimme zittert vor Verbitterung. – Ihre Wohnung war mir egal. Ich sah, wie einsam sie war, wie sie ihre Familie brauchte. Hätte ich gewusst, was für eine Tochter und Enkelin sie hat, hätte ich sie nie gesucht! Ich mische mich nie wieder in fremde Angelegenheiten. Vor dem Jugendamt habe ich keine Angst – bei uns stimmt alles. Aber es tut weh, dass es so enden musste.

Sabine hat sich noch nicht von dem Schock erholt. Sie erinnert sich daran, wie sich Tante Helga über jeden Besuch freute, wie sie ihr dankbar war. Doch jetzt wurde ihre Güte gegen sie verwendet. Karin und Jana, statt selbst Verantwortung für die kranke Mutter und Großmutter zu übernehmen, machten Sabine zur Zielscheibe ihres Misstrauens und Hasses.

Markus versucht, sie zu trösten, doch sie fühlt sich verraten. „Wir haben so viele Jahre geholfen, Zeit, Geld und Kraft geopfert – sagt sie. – Und als Dank bekommen wir ein Messer in den Rücken. Ist das etwa die Art, wie man heute Dankbarkeit zeigt?“

Sabine geht nicht mehr zu Tante Helga. Es ist ihr unerträglich, dass ihre gute Absicht so enden musste. Sie fürchtet neue Beschwerden, neue Anschuldigungen. Doch im Stillen quält sie eine Frage: Wie geht es Tante Helga jetzt? Hat ihre Tochter endlich Vernunft angenommen? Oder ist die alte Frau wieder allein?

– Ich weiß nicht mehr, wie ich Menschen in die Augen sehen soll – gesteht Sabine. – Wir wollten nur gute Nachbarn sein. Jetzt fühle ich mich schuldig, obwohl ich nichts Falsches getan habe.

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„Wir halfen der Nachbarin und erhielten eine Beschwerde. Ist das etwa Dankbarkeit?“
Echos des Endes