»Wir haben unserer Nachbarin geholfen und als Dank eine Beschwerde bekommen. Ist das etwa die Art von Dankbarkeit?«
– Vor Kurzem kam ein Sozialarbeiter zu uns, erzählt die 35-jährige Sabine bitter. – Er sagte, es sei eine Beschwerde eingegangen: Unsere Kinder würden angeblich unter unzumutbaren Bedingungen leben, und er müsse das prüfen. Er sah sich den Kühlschrank an, die Wohnung, beobachtete die Kinder – alles in Ordnung. Fertigte ein paar Papiere an, bat mich, sie zu unterschreiben, und ging wieder.
Sabine und ihr Mann, Thomas, sind schon lange verheiratet. Sie haben zwei Kinder: den achtjährigen Sohn Jonas und die fünfjährige Tochter Lina. Die Kinder sind gut erzogen, hören auf ihre Eltern, und in der Familie herrscht Liebe und Harmonie. Sabine konnte sich einfach nicht erklären, wer und warum jemand eine solche Beschwerde eingereicht haben könnte.
Die Eltern fragten die Kinder, ob in der Schule oder im Kindergarten alles in Ordnung sei. Diese nickten nur und erzählten nichts Verdächtiges. Gut, dass es keine Konsequenzen gab, doch die Frage, wer so etwas getan hatte, ließ Sabine keine Ruhe.
Eine Woche später traf sie Katja, die Enkelin ihrer Nachbarin. Ihr Verhältnis war angespannt: Sie hatten sich nur einmal gesehen, und dieses Treffen endete im Streit.
Katjas Großmutter, Tante Helga, war begeistert gewesen, als Sabine und Thomas in ihr Haus in Dortmund gezogen waren. Sie kam oft auf einen Tee vorbei und brachte selbstgebackenen Kuchen mit. Tante Helga hatte auf Jonas aufgepasst, als er noch klein und das einzige Kind der Familie war. Sabine und Thomas revanchierten sich: Sie reparierten Dinge in ihrer Wohnung, kauften Lebensmittel und Medikamente, luden sie sogar zu sich ins Gartenhaus ein.
Als Tante Helga krank wurde und bettlägerig war, wurde Sabine ihr Engel. Sie kam jeden Tag, putzte, kochte, half mit der Hygiene. Ein Sozialarbeiter besuchte die Nachbarin auch, doch seine Besuche waren nur Formalitäten – er konnte sich nicht so viel Zeit für die bettlägerige Frau nehmen. Verwandte hatte Tante Helga zwar, doch sie schienen nicht zu existieren – sie tauchten seit Jahren nicht auf.
– In acht Jahren ist keiner ihrer Verwandten auch nur einmal vorbeigekommen, erinnert sich Sabine. – Ich war mir sicher, dass Tante Helga niemanden hat. Wir haben unser eigenes Geld für ihre Medikamente ausgegeben – ihre Rente reichte kaum für die Nebenkosten. Wir wechselten uns ab, aber wir haben auch eine eigene Familie und eigene Sorgen. Irgendwann merkte ich, dass wir überfordert waren. Da beschloss ich, ihre Angehörigen zu suchen.
Sabine fragte Tante Helga nach ihren Kontakten und erfuhr, dass ihre Tochter, Claudia, und ihre Enkelin Katja noch lebten. Sie fand Claudia in den sozialen Medien und schrieb ihr, flehte sie an, zu kommen, da es Tante Helga immer schlechter ging. Natürlich erzählte Sabine das auch ihrer Nachbarin.
Tante Helga war außer sich vor Freude: Sie hatte Tochter und Enkelin seit 15 Jahren nicht gesehen. Das letzte Mal war Katja da, als sie sieben war. Damals hatte Claudia verlangt, die Wohnung ihrer Mutter zu verkaufen, doch Tante Helga weigerte sich. Die Tochter war wutentbrannt, schrie ihre Mutter an und brach jeden Kontakt ab.
Am nächsten Tag kam Claudia. Doch statt sich zu bedanken, beschuldigte sie Sabine. Sie behauptete, diese kümmere sich nur um ihre Mutter, um an die Wohnung zu kommen. Noch dazu deutete Claudia an, Sabine würde die alte Frau vergiften, damit sie schneller stirbt und die Wohnung frei wird.
– Sie schrie, ich sei eine Betrügerin, ich hätte mich in das Vertrauen ihrer Mutter geschlichen! erinnert sich Sabine schmerzerfüllt. – Thomas verteidigte mich und warf sie raus. Claudia und Katja gingen, doch zum Abschied zischte Katja: »Wir werden alles tun, damit Sie im Gefängnis landen. Warten Sie nur ab, Sie Gauner! Wir werden Sie loswerden!«
Als Sabine Katja wieder sah, war alles klar. Sie hatte die Beschwerde beim Jugendamt eingereicht und sie beschuldigt, ihre Kinder zu vernachlässigen.
– Ich wollte Tante Helga doch nur helfen, sagt Sabine, und ihre Stimme zittert vor Verletztheit. – Ihre Wohnung brauchte ich nicht. Ich sah, wie einsam sie war, wie sehr sie ihre Familie brauchte. Hätte ich gewusst, was für eine Tochter und Enkelin sie hat, hätte ich sie nie gesucht! Ich mische mich nie wieder in fremde Angelegenheiten. Jugendamt macht mir keine Angst – bei uns stimmt alles. Aber es tut weh, dass es so enden musste.
Sabine hat sich noch immer nicht von dem Schock erholt. Sie denkt daran, wie Tante Helga sich über jeden Besuch freute, wie dankbar sie für die Fürsorge war. Und nun hat ihr diese Güte das Gegenteil gebracht. Claudia und Katja, anstatt sich um die kranke Mutter und Großmutter zu kümmern, haben Sabine zum Ziel ihres Misstrauens und ihrer Wut gemacht.
Thomas versucht, sie zu beruhigen, doch sie fühlt sich verraten. »Wir haben jahrelang geholfen, Zeit, Geld und Kraft gegeben, sagt sie. – Und als Dank bekommen wir das Messer in den Rücken. Ist das etwa die Art, wie man sich heute bedankt?«
Sabine geht nicht mehr zu Tante Helga. Es ist ihr unerträglich, dass ihre guten Absichten so enden mussten. Sie fürchtet neue Beschwerden, neue Anschuldigungen. Doch innerlich quält sie eine Frage: Wie geht es Tante Helga jetzt? Haben ihre Tochter und Enkelin endlich Vernunft angenommen? Oder ist die alte Frau wieder allein?
– Ich weiß nicht, wie ich den Menschen jetzt noch in die Augen schauen soll, gesteht Sabine. – Wir wollten doch nur gute Nachbarn sein. Und jetzt fühle ich mich schuldig, obwohl ich nichts falsch gemacht habe.