**Tagebucheintrag**
Mit achtzehn warf mich meine Mutter aus dem Haus, und heute fleht sie um Hilfe. Ich frage mich immer noch, ob sie mich jemals geliebt hat.
Mit sechzehn brachte sie zum ersten Mal einen neuen Mann nach Hause. Meine Eltern hatten sich schon lange getrennt, und ich hoffte insgeheim, dass sich alles wieder einrenken würde. Doch mit Boris wurde es nur schlimmer. Er war nicht grausam – nein. Aber er machte sofort klar, dass ich ihm im Weg war. Für ihn war ich nicht die Tochter seiner Frau, sondern ein fremdes Mädchen, das seine „neues, glückliches Leben“ störte.
Ein Jahr später bekamen sie einen Sohn – meinen kleinen Bruder. Ich verliebte mich sofort in ihn. Ich fütterte ihn, wiegte ihn, ging mit ihm spazieren. Meine Mutter kehrte früh aus dem Mutterschutz zurück, aus Angst, ihren Job zu verlieren. Und mir wurde einfach befohlen:
„Du wartest erstmal mit dem Studium. Jemand muss sich um den kleinen Finn kümmern. Wer denn, wenn nicht du?“
Ich schwieg. Ich fühlte mich ohnehin schon wie ein Gast in diesem Haus. Aber diese Entscheidung setzte den Schlusspunkt. Niemand fragte mich mehr – man befahl mir.
Boris schrie ständig. Bei jedem Anlass war ich schuld. Nicht aufgeräumt, die Wäsche vergessen, den Kleinen nicht pünktlich gefüttert – alles ein Grund für Wut. An jenem Abend kam er früher nach Hause und fand das schmutzige Geschirr in der Küche. Ich hatte es nicht geschafft, weil Finn wieder Fieber hatte. Doch das interessierte ihn nicht. Er brüllte, knallte Türen, nannte mich „Schmarotzerin“ und „Faulenzerin“, die ihnen „auf der Tasche liege“.
Als meine Mutter von der Arbeit kam, hoffte ich, sie würde mich wenigstens anhören. Doch sie stellte sich neben ihn. Ohne mich anzusehen, sagte sie:
„Wenn du deine Pflichten nicht erfüllen willst, dann pack deine Sachen. Wir haben dir nichts mehr zu geben. Hör auf, uns auszunutzen.“
Noch am selben Abend ging ich. Meine Oma nahm mich auf. Nachts weinte ich in ihr Kissen, während sie mich tröstete. Meine Mutter rief nicht an. Nicht ein einziges Mal. Sie fragte nicht, wie es mir ging, interessierte sich nicht für mein Leben. Selbst als Oma krank wurde und wir kaum über die Runden kamen, gab es keine Hilfe. Wir kämpften uns alleine durch.
Zu meinem achtzehnten Geburtstag arbeitete ich als Kellnerin in einem Café. Abends lernte ich im Fernstudium. Wir lebten bescheiden: Omas Rente ging für Medikamente und die Nebenkosten drauf. Den Rest stemmte ich. Mit den Jahren wurde es leichter. Ich verdiente mehr, schloss mein Studium ab, und endlich hatten wir etwas Geld.
Als Oma starb, blieb ich in ihrer Wohnung. Sie hatte sie auf mich überschrieben. Ich dachte, meine Mutter würde wenigstens dann auftauchen – wenn nicht aus Mitleid, dann aus Gier. Doch nein. Es war, als hätte es mich nie gegeben.
Mit vierundzwanzig lernte ich Tom kennen. Er wurde meine Stütze, ein echter Ehemann. Wir heirateten, bekamen zwei wundervolle Töchter. Zum ersten Mal spürte ich, was eine echte Familie ist – ohne Demütigungen, Angst oder stumme Vorwürfe. Zehn Jahre lebten wir in Harmonie. Bis eines Tages jemand an die Tür klopfte.
Ich öffnete. Da stand sie. Meine Mutter.
„Hallo, mein Kind… Hilf mir. Ich habe niemanden. Boris ist weg. Finn… er hängt mit den falschen Leuten rum. Ich bin allein. Die Rente reicht nicht. Bitte hilf mir…“
Sie bat nicht um Verzeihung. Kein Wort. Keine Reue. Nur Klagen. Nur „es geht mir schlecht“. Nur „hilf mir“. Kein „Wie hast du all die Jahre gelebt?“, kein „Es tut mir leid, dass ich dich verraten habe“. Nur dieser müde, fordernde Blick.
Ich sah sie an und kämpfte gegen die Tränen. Doch alles, was all die Jahre wehtat, brach aus mir heraus. Meine Antwort war hart:
„Hast du dich jemals gefragt, wie Oma und ich überlebt haben? Ist dir nie die Zunge eingefroren, um anzurufen? Wenn ich nachts geheult habe, gelernt, zwölf Stunden geschuftet habe – hast du auch nur einmal daran gedacht, wie schwer wir es hatten? Und jetzt kommst du her, als wäre nichts gewesen?“
Sie wurde blass, presste ihre Tasche fester und sagte kalt:
„Wenn du nicht helfen willst – ich werde klagen. Per Gesetz musst du für deine Mutter sorgen.“
Ich knallte die Tür vor ihr zu. Und flüsterte:
„Mach, was du willst. Ich bin nicht mehr deine Tochter. Und du bist nicht mehr meine Mutter.“
Später weinte ich lange. Tom versuchte mich zu beruhigen, strich mir übers Haar. Die Mädchen versteckten sich, verstanden nichts. Ich setzte mich aufs Sofa und spürte wohl zum ersten Mal richtig, wie tief der Schmerz saß. Die Kälte, die Einsamkeit – alles kam hoch.
Doch als der Sturm in mir abflaute, dachte ich nach. War ich zu hart? Immerhin ist sie meine Mutter. Sie hat mich großgezogen, bis ich siebzehn war. Auch wenn es schlecht war, auch wenn nur Vorwürfe kamen. Aber sie war da. Zumindest äußerlich. Doch wie soll ich vergeben, dass sie in meiner dunkelsten Stunde einen Mann über ihre Tochter stellte?
Ich habe noch immer keine Antwort. Der Groll sitzt tief. Mein Herz zerbricht. Vielleicht schaffe ich es eines Tages zu vergeben. Aber jetzt – ich kann nicht. Und vielleicht soll ich es auch nicht.
**Was ich heute gelernt habe:** Manche Wunden heilen nie. Und manchmal ist es okay, sich selbst zu schützen – selbst vor der eigenen Familie.