Der Geschmack von Marmelade – der Geschmack des Abschieds
Markus wachte früh auf, wie immer. Doch statt des gewohnten Dufts von Pfannkuchen oder Quarkkeulchen, der sonst durch die Wohnung zog, herrschte Stille. Kalt, unnatürlich. Sogar der Wasserkocher stand unbenutzt auf der Herdplatte. Er setzte sich auf die Bettkante und lauschte. Kein Knarren der Dielen, kein Summen der Dunstabzugshaube, kein leises Gemurmel seiner Oma, die sonst mit einem Lied auf den Lippen das Frühstück zubereitete. Sein Herz zog sich zusammen.
Er stürmte in ihr Zimmer. Sie lag auf der Seite, als hätte sie versucht aufzustehen, es aber nicht geschafft. Ein Arm hing schlaff über die Bettkante, ihre Augen waren halb geschlossen. Markus stürzte zu ihr:
„Oma! Was ist los?“
Sie bewegte kaum die Lippen. Vorsichtig drehte er sie auf den Rücken, dann rannte er zum Telefon. Mit zitternden Händen wählte er den Notruf. Er packte ihre Sachen zusammen: Nachthemd, Morgenmantel, Hausschuhe. Er redete laut vor sich hin – nur um die drückende Stille nicht zu hören, die ihm fremd und unheimlich vorkam.
Als die Ärzte kamen, zog ihn einer beiseite:
„Du bist der Enkel? Ich will ehrlich sein. Es sieht schlecht aus. In ihrem Alter sind die Chancen gering. Falls sie überlebt, wird sie nicht mehr aufstehen. Vielleicht nicht einmal mehr sprechen. Mach dich darauf gefasst.“
Markus glaubte es nicht. Das war doch seine Oma! Stark, lebensfroh, mit einem Funken in den Augen! Sie hatte die Nachwendezeit durchgestanden, ihn allein großgezogen… Wie sollte sie das nicht schaffen?
Die ganze Fahrt ins Krankenhaus hielt er ihre Hand. Er redete ihr gut zu, versprach, dass alles werden würde. Dass er bei ihr bleiben würde.
Als sie zur Untersuchung gebracht wurde, blieb Markus wartend zurück. Es ging ihm nicht in den Kopf: Gestern noch hatte sie am Herd gestanden, ihm einen letzten Pfannkuchen aufgedrängt, und jetzt lag sie reglos da. Ihre Hand, die er immer als so kräftig in Erinnerung hatte, wirkte plötzlich zerbrechlich wie ein dürrer Zweig.
Er erinnerte sich an ihr Leben zusammen. Seine Mutter hatte ihn als Baby zurückgelassen – war nach Amerika gegangen und nie zurückgekehrt. Seinen Vater kannte er nicht. Nur die Oma – seine ganze Welt. Und er? Wie oft war er grob zu ihr gewesen, hatte die Türen geknallt. Sie hatte nur seufzend über seinen Kopf gestrichen.
Am dritten Tag war ihr Bett leer.
„Sie ist in der Nacht gegangen“, sagte die Mitpatientin und aß weiter.
Markus stürzte in den Flur, fand den Arzt. Der überreichte ihm Papiere, redete von Beerdigungen, aber er hörte kaum zu. Wie im Traum ging er nach Hause.
Daheim rief sein Chef an:
„Entweder du bist übermorgen wieder da, oder du kannst dich verabschieden!“
„Dann kündige ich“, sagte Markus und legte auf.
Zur Beerdigung kamen ein paar fremde ältere Damen. Die Nachbarin half mit den Vorbereitungen. Markus saß am Tisch, starrte auf das Foto seiner Oma im schwarzen Rahmen. Sie lächelte, als wollte sie sagen: „Mach dir nichts draus. Alles wird gut.“
Später fragte die Nachbarin:
„Weißt du, dass deine Mutter da war?“
Markus erstarrte. Nein. Das wusste er nicht. Sie wollte die Wohnung verkaufen, ihn mit nach Amerika nehmen, weil ihr neuer Freund pleite war.
„Und Oma wusste davon?“
„Ja. Und sie hatte Angst. Dass du mitgehst und wieder allein dastehst.“
Markus fand seine Mutter. In einem billigen Hotel. Sie war nicht einmal überrascht.
„Du siehst gut aus. Ganz der Vater. Nur dein Temperament kommt von mir“, lächelte sie gezwungen. „Die Wohnung gehört mir schon zur Hälfte. Ich brauche das Geld.“
„Oma hat alles auf mich überschrieben. Du bekommst nichts.“
Ihr Gesicht verzerrte sich.
„Lüg nicht! Ich verklag dich!“
„Sie ist tot. Und du warst nicht mal auf der Beerdigung. Verschwinde. Ich kenne dich nicht.“
Er ging, ohne sich umzudrehen.
Ein paar Tage später klopfte es an der Tür.
„Guten Tag. Ich bin vom Pflegedienst. Sie haben eine Betreuung angefordert?“
„Meine Oma ist nicht mehr da“, sagte er.
„Mein Beileid…“, flüsterte die junge Frau. „Meine Mutter ist auch erst vor Kurzem gegangen.“
Sie tranken Tee in der Küche. Sie rührte Omas Tasse nicht an. Erzählte von ihrer Mutter. Dann sagte sie:
„Schließ die Augen. Erinner dich an einen Geschmack, den nur sie hatte.“
„Himbeermarmelade“, hauchte er. „Ich hätte den ganzen Topf aufessen können.“
„Erinnere dich daran. Spüre ihn. Und dann ist sie bei dir. Du bist nicht allein.“
Markus schloss die Augen. Und da war sie wieder – seine Oma, genau so, wie er sie in Erinnerung hatte.