**Der Geschmack von Marmelade – der Geschmack des Verlustes**
Ich, Lukas, wachte früh auf wie immer. Doch statt des vertrauten Dufts von Pfannkuchen oder Käsekuchen, der sonst die Wohnung erfüllte, herrschte Stille. Kalt, unnatürlich. Sogar der Wasserkessel stand kalt auf dem Herd. Ich setzte mich auf die Bettkante und lauschte. Kein Knarren der Dielen, kein Summen der Dunstabzugshaube, kein leises Gemurmel meiner Oma, die sonst das Frühstück zubereitete und dabei vor sich hin summte. Mein Herz zog sich zusammen.
Ich stürzte in ihr Zimmer. Sie lag auf der Seite, als hätte sie versucht aufzustehen, aber es nicht geschafft. Ein Arm hing schlaff über die Bettkante, ihre Augen waren halb geschlossen. Ich warf mich neben sie:
„Oma! Was ist los?“
Sie bewegte kaum die Lippen. Vorsichtig drehte ich sie auf den Rücken und rannte zum Telefon. Mit zitternden Fingern wählte ich den Notruf. Dann packte ich ihre Sachen: Nachthemd, Morgenmantel, Hausschuhe. Ich sprach jeden Handgriff laut aus – nur um die bedrückende Stille nicht zu hören, die sich fremd und beängstigend anfühlte.
Als die Ärzte kamen, zog mich einer beiseite:
„Sie sind der Enkel? Ehrlich gesagt, es sieht schlecht aus. In ihrem Alter sind die Chancen gering. Falls sie überlebt, wird sie nicht mehr aufstehen. Vielleicht nicht mal mehr sprechen. Machen Sie sich darauf gefasst.“
Ich glaubte es nicht. Das war doch meine Oma! Meine starke, lebensfrohe Oma mit dem Funken in den Augen! Sie hatte die Nachwendezeit durchgestanden, mich allein großgezogen… Wie konnte sie das nicht schaffen?
Ich hielt ihre Hand den ganzen Weg ins Krankenhaus. Sagte ihr, dass alles gut werden würde. Dass ich da sein würde.
Als sie zur Untersuchung gebracht wurde, blieb ich wartend zurück. Es war unbegreiflich: Gestern stand sie noch am Herd und redete mir ein, „noch einen Pfannkuchen“ zu essen, und jetzt lag sie reglos da. Ihre Hand, die mir immer so kräftig erschienen war, wirkte plötzlich zerbrechlich wie ein dürrer Ast.
Ich dachte an unser Leben zusammen. Meine Mutter hatte mich als Baby zurückgelassen – nach Amerika gegangen und nie zurückgekehrt. Mein Vater war unbekannt. Nur Oma war mein ganzes Leben. Und ich… wie oft war ich grob zu ihr, wurde ungeduldig, knallte Türen. Sie seufzte nur und strich mir über den Kopf.
Am dritten Tag fand ich ihr Bett leer.
„Sie ist in der Nacht gegangen“, sagte die Zimmernachbarin und aß weiter.
Ich stürzte in den Flur, fand den Arzt. Er überreichte mir Papiere und redete von Beerdigungen, aber ich hörte kaum zu. Nach Hause ging ich wie im Traum.
Da rief mein Chef an:
„Entweder Sie sind in zwei Tagen wieder da, oder Sie können sich gekündigt denken!“
„Dann kündigen Sie mich“, sagte ich und legte auf.
Zur Beerdigung kamen ein paar fremde ältere Damen. Die Nachbarin half mit den Vorbereitungen. Ich saß am Tisch, starrte auf Omas Foto im schwarzen Rahmen. Sie lächelte, als wollte sie sagen: „Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut.“
Später fragte die Nachbarin:
„Weißt du, dass deine Mutter hier war?“
Ich erstarrte. Nein. Ich wusste nichts. Sie wollte die Wohnung verkaufen, mich mit nach Amerika nehmen, weil ihr neuer Freund Pleite gemacht hatte.
„Und Oma wusste das?“
„Ja. Und sie machte sich Sorgen. Sie hatte Angst, du würdest gehen und wieder allein sein.“
Ich fand meine Mutter. In einem billigen Hotel. Sie wirkte nicht einmal überrascht.
„Du bist ja ein Hüne geworden. Ganz der Vater. Nur das Temperament hast du von mir“, lächelte sie gezwungen. „Die Wohnung gehört mir doch zur Hälfte. Ich brauche das Geld.“
„Oma hat alles auf mich überschrieben. Du kriegst nichts“, antwortete ich.
Ihr Gesicht verzog sich.
„Das lügst du! Ich geh vor Gericht!“
„Sie ist tot. Und du warst nicht mal auf ihrer Beerdigung. Geh. Ich kenne dich nicht. Und will es auch nicht.“
Ich ging, ohne mich umzudrehen.
Ein paar Tage später klopfte es an der Tür.
„Guten Tag. Ich bin vom Pflegedienst. Sie haben eine Betreuung angefordert?“
„Oma ist nicht mehr da“, sagte ich.
„Mein Beileid…“, flüsterte sie. „Meine Mutter ist auch erst kürzlich gegangen.“
Wir tranken Tee in der Küche. Sie rührte Omas Tasse nicht an. Erzählte von ihrer Mutter. Dann schlug sie vor:
„Schließ die Augen. Erinnere dich an einen Geschmack, der nur zu ihr gehörte.“
„Himbeermarmelade“, hauchte ich. „Ich hätte einen ganzen Topf auf einmal essen können.“
„Dann erinnere dich daran. Spür ihn. Und sie ist bei dir. DuUnd als ich die Augen öffnete, spürte ich zum ersten Mal seit Tagen wieder ein wenig Trost, denn ihre Liebe war immer noch da – genau wie der süße Geschmack der Marmelade auf meiner Zunge.