Liebe und Verantwortung

An jenem Tag kam Jutta etwas früher von der Schule nach Hause. Am Küchentisch saßen ihre Mutter und ihr Stiefvater – einander gegenüber, doch mit gesenkten Blicken. Das Mädchen hängte ihre Jacke auf und rief fröhlich:

„Hallo, Mama! Hallo, Friedrich!“

„Hallo, Jutta. Zieh dich um und komm zum Mittagessen“, antwortete die Mutter.

Jutta spürte sofort: Zwischen den beiden lag Spannung in der Luft. Doch sie zeigte nichts, ging in ihr Zimmer, wechselte ihre Kleidung und wollte gerade zurück in die Küche, als sie ihre Mutter sagen hörte:

„Sind wir eine Familie oder nicht? …“ Ihre Stimme zitterte.

Jutta erstarrte. Lauschen war falsch, das wusste sie. Doch die Neugier siegte. Sie schlich näher und hörte, wie ihre Mutter Friedrich vorwarf, er habe ohne Absprache die von seinen Eltern geerbte Wohnung verkauft und ein Ferienhaus gekauft.

„Es war eine Überraschung, Sabine! Ich wollte euch eine Freude machen!“, verteidigte er sich.

„Eine Freude? … Wenn du so etwas heimlich tust?“

Der Streit eskalierte. Jutta verkroch sich in ihrem Zimmer. Sie wusste nicht, wie es enden würde, doch die Angst kroch in ihr hoch. Friedrich war für sie nicht nur der Mann ihrer Mutter – er war ihr wahrer Vater geworden. Nicht durch Blut, sondern durch seine Taten.

Ihren leiblichen Vater kannte sie kaum. Er war gegangen, als sie drei war. Er zahlte Unterhalt, doch er rief nicht, schrieb nicht, kam nicht vorbei. Ihre Mutter log nicht. Sie erfand keine schönen Geschichten von Seefahrern oder Dienstreisen. Sie sagte ehrlich: „Er ist gegangen. Du warst ihm nicht wichtig.“ Es tat weh, doch die Wahrheit war besser als eine Lüge, die Hoffnung weckte.

Als Jutta acht war, kam Matthias. Der „Freund“ ihrer Mutter. Streng, unnachgiebig. Einmal schrie er sie an, weil sie den Staub nicht gewischt hatte. Sie erzählte es ihrer Mutter – und sah ihn nie wieder. Ohne ein Wort warf sie ihn hinaus.

Doch Friedrich war anders. Er lachte, scherzte, brachte zwei Blumensträuße mit – einen für die Mutter, einen für Jutta. Er brachte ihr das Kuchenbacken bei, fuhr sie zu ihren Hobbys, half bei den Hausaufgaben. Er schrie nie. Selbst wenn er wütend war, seufzte er nur und räumte selbst auf.

Er wurde der Vater, den sie nie hatte. Und als die Schule ein Vatertagsfest ankündigte, ging Jutta zu ihm:

„Friedrich … würdest du an Papas Stelle mitkommen?“

Er wirkte nicht überrascht. Er sagte nur: „Natürlich, Jutta.“

Seitdem wusste sie: Er war ihr Mensch. Bei ihm war sie sicher. Bei ihm durfte sie sie selbst sein.

Und nun – der Streit. Er knallte die Tür zu und ging. Ihre Mutter weinte. Juttas Handy war leer, und ohne ein Wort fuhr sie dorthin, wo sie einmal alte Sachen abgeholt hatten – zu Friedrichs Wohnung. Sie erinnerte sich an die Adresse, weil die Hausnummer dieselbe war wie ihre Schulnummer.

Er öffnete die Tür, verblüfft.

„Du? Was machst du hier?“

„Du bist doch nicht wirklich weg? … Sag, dass du uns nicht verlässt?“

Er schwieg.

„Ich hab dich lieb“, sagte sie plötzlich. „Und du bist mein Vater. Mein richtiger.“

Er kniete sich hin und umarmte sie.

„Ich gehe nicht“, antwortete er leise. „Ich war nur … überfordert. Aber wenn du mich Vater nennst, dann bin ich da, wo ich hingehöre.“

Gemeinsam kehrten sie nach Hause zurück. Und als ihre Mutter sie in der Tür stehen sah, begann sie stumm zu weinen.

„Es tut mir leid“, sagte Friedrich. „Ich lag falsch.“

Von diesem Tag an konnte kein Sturm mehr das Fundament ihrer Familie erschüttern. Denn Jutta wusste: Ein Vater ist nicht, wer einen zeugt. Ein Vater ist, wer bleibt.

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