Die lebendige Stille

**Stille, die erwacht**

Gestern stand ich am Fenster und starrte auf die nassen Straßen Münchens. „Wir sollten eine Zeitlang getrennt leben“, klangen die Worte meines Mannes Markus immer noch in meinem Kopf wie fernes Donnergrollen. Auf der Fensterbank kühlte die fünfte Tasse Lindenblütentee dieses Abends ab. Eine alte Angewohnheit – Tee zu kochen, wenn die Seele am Abgrund steht.

„Wir sollten getrennt leben“, hatte er gesagt, so beiläufig, als spräche er über das Wetter oder die Stromrechnung. Genauso selbstverständlich wie: „Die Suppe schmeckt nicht“ oder „Wann räumst du endlich deine Hefte vom Tisch?“

Im Wohnzimmer brummte die alte Klimaanlage, gekauft im ersten Jahr unserer Ehe. Damals hatten wir uns im Geschäft gestritten – ich wollte ein kompaktes Modell, er bestand auf der „seriösen“ Variante. Jetzt brummte sie nur noch, monoton und trostlos, wie unser gemeinsames Leben. Ich strich über den Kragen meines grauen Pullovers – so verblasst wie die Hälfte meiner Kleidung.

Fünfzehn Jahre. Morgens um halb sieben sein Espresso – ohne Zucker, mit einem Spritzer Zitrone. Hemden – gebügelt bis zur Perfektion. Krawatten – nach Farben sortiert. Sonntagsbraten – jeden Mittwoch, weil „Tradition“.

Ich erinnerte mich an unser erstes Treffen auf einer Party bei Freunden. Er war auf mich zugekommen, hatte gelächelt: „Das Mädchen im roten Kleid, darf ich um diesen Tanz bitten?“ Damals mochte ich noch helle Farben und lautes Lachen, hatte keine Angst, ich selbst zu sein.

„Hanna, hörst du mir überhaupt zu?“, riss mich Markus’ Stimme aus der Erinnerung. „Ich brauche einfach Abstand. Zeit, um nachzudenken.“

Ich nickte und musterte die abgewetzte Ecke des Teppichs. Sechs Jahre lang wollten wir ihn ersetzen, aber Markus fand immer Ausreden: Gehalt zu spät, Urlaub steht an, „lass es uns im Herbst machen“.

„Ich miete mir eine Wohnung in der Innenstadt“, fuhr er fort, nervös mit den Fingern auf die Tischplatte trommelnd. „Hole meine Sachen nach und nach ab. Vielleicht tut uns das gut?“

„Uns“. Dieses Wort blieb an mir hängen. Immer „wir“, „uns“, aber die Entscheidungen traf er allein.

„Gut“, entgegnete ich mit fester Stimme.

„Gut?“ Er runzelte die Stirn. Erwartet hatte er Tränen, Geschrei – alles außer diesem Wort. „Einfach… gut?“

„Ja.“ Ich trank einen Schluck des kalten Tees. „Wann ziehst du aus?“

Er zögerte, musterte mich mit ungewohntem Staunen. „Am Sonntag. Der Makler hat schon was Passendes.“

Also hatte er längst Pläne gemacht, dachte ich – und schwieg.

Am Abend, als ich seine Sachen packte, fand ich Bruchstücke unserer Vergangenheit. Einen Schal, den ich ihm zum achten Jahrestag geschenkt hatte. Manschettenknöpfe von seinem Vater. Ein altes Notizbuch mit einer Liste meiner „Fehler“ in seiner akkuraten Schrift: „denkt zu viel, vernachlässigt sich, bügelt Hosen schlecht…“

Die Liste war mir vor Monaten zufällig in die Hände gefallen. Damals hatte ich bis zum Morgengrauen geweint. Und am nächsten Tag ihm sein Lieblingsessen gemacht – Spiegelei mit knusprigem Rand.

Jetzt, während ich seine Pullover in Kartons legte, spürte ich seltsame Erleichterung. Mit jeder Bewegung schien die Luft leichter zu werden, als löse sich ein Gewicht in meiner Brust auf.

„Ich komme Donnerstag vorbei, um die Jacken zu holen“, sagte Markus an der Tür, den Koffer in der Hand. „Und vergiss nicht, die Orchidee zu gießen. Meine Mutter mag sie so sehr.“

Ich nickte. Die Orchidee – ein Geschenk meiner Schwiegermutter. Ich hasste sie: launisch, mit ständig abfallenden Blüten. Trotzdem goss ich sie, düngte sie, stellte sie um – alles nach Anleitung. In diesem Moment, während Markus seine Taschen kontrollierte – Pass, Schlüssel, Handy –, dachte ich nur an die Orchidee.

„Und… mach dich nicht verrückt“, fügte er mit diesem herablassenden Lächeln hinzu. „Such dir was zu tun. Vielleicht ein Fitnessstudio? Oder stricken?“

Die Tür fiel ins Schloss. Sein Parfüm hing noch in der Luft – scharf, mit Bergamotte-Akzenten. Dasselbe, das ich ihm jedes Jahr schenkte, weil „was soll man ändern, wenn es passt“.

Ich atmete langsam aus, lehnte mich an die Wand. In mir war Leere. Kein Schmerz, keine Angst – einfach Leere. Und Stille. Unfassbare Stille.

Ich schaltete das Schlafzimmerlicht ein und blieb vor dem Bücherregal stehen. In der Küche tickte die Uhr, doch ihr Klang war anders – nicht bedrückend, nur ein reines Zeitmaß. Meine Zeit.

Die erste Woche schlief ich einfach. Kam von der Arbeit, fiel aufs Sofa und schlief bis zum Morgen. Als hätte mein Körper endlich die Erlaubnis bekommen, stehenzubleiben, die Last fremder Erwartungen abzuwerfen.

Am Freitag rief meine Freundin Leni an: „Hanna, wo steckst du? Lust auf Café?“

„Ich kann nicht“, begann ich – und stockte. Warum nicht? Niemand wartete mehr zu Hause mit Fragen wie „Wo warst du?“ oder „Schon wieder Kaffee, jetzt stinkst du danach.“

Eine Stunde später saß ich in einem kleinen Café, die Hände um eine Tasse Mokka gewärmt. Leni erzählte von ihrem neuen Projekt, vor mir ein Dessert – luftig, mit Himbeeren, völlig nutzlos nach den Maßstäben „gesunder Ernährung“.

„Du siehst… erschöpft aus“, bemerkte Leni. „Aber irgendwie… ruhig?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Markus ist ausgezogen. Will eine Weile getrennt leben.“

„Und wie geht’s dir?“

„Seltsam. Wie in Schwerelosigkeit. Weißt du, wie in einem Flugzeug bei Turbulenzen – Angst, aber auch aufregend.“

Zuhause spürte ich die Stille – nicht erdrückend, sondern warm. Kein Gemotze über meine Einkäufe, kein Seufzen über den geöffneten Laptop, keine Forderung, „erzähl von deinem Tag“, nur um mich gleich mit eigenen Geschichten zu übertönen.

Am Samstag wachte ich um zehn auf. Nicht um sechs, um ein „ordentliches Frühstück“ zu machen. Einfach um zehn – weil ich es so wollte. Kippte mir billigen Kaffee ein, den Markus „Abscheu“ nannte, und trat auf den Balkon.

Der Frühling hatte München erobert. Der Hof war voller Kinder, bunter Jacken, Lachen. Irgendwo spielte jemand Geige.

Die Hausverwaltung rief an: „Frau Berger? Sie hatten eine Meldung. Der Lichtschalter funktioniert nicht? Der Elektriker kommt gleich.“

Früher hätte ich gesagt: „Mein Mann kümmert sich.“ Jetzt antwortete ich: „Ja, bitte.“

Der ältere Handwerker reparierte es schnell: „Alte Leitungen. Muss neu.“

„Neu… verlegen?“

Er sah mich überrascht an. „Ist einfach. Mach ich gleich.“

Die nächste Stunde half ich ihm, stellte Fragen. Es war gar nicht schwer. Nur hatte mir nie jemand erklärt – „das ist nichts für Frauen“.

Abends schrieb Markus: „Komme morgen für die Schuhe. Schau mal, wie du klar kommst.“

Ich antwortete nicht.

Morgens wachte ich mit einem Gedanken auf: Ich will mich bewegen. Nicht im Fitnessstudio vor Spiegeln und fremden Blicken – einfach gehen, atmen. OnlineAm nächsten Morgen schenkte ich die Orchidee einfach der Nachbarin – und atmete endlich frei.

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Die lebendige Stille
Geständnis im Schatten der Vergangenheit