Neuer Blick auf ein Leben

**Tagebucheintrag – Annas Neubeginn**

Anna stand am Fenster und betrachtete die vom Regen glänzenden Straßen Hamburgs. *»Wir sollten eine Zeitlang getrennt leben«*, die Worte ihres Mannes Thomas hallten noch in ihr nach, wie ein fernes Donnergrollen. Auf der Fensterbank stand eine Tasse Pfefferminztee – schon die vierte an diesem Abend. Eine alte Gewohnheit, wenn die Nerven blank lagen.

*»Wir sollten eine Zeitlang getrennt leben«*, hatte er gesagt, als würde er über das Wetter oder die Stromrechnung reden. So beiläufig wie sein *»Die Suppe ist versalzen«* oder *»Wann räumst du endlich deine Zeitschriften vom Fensterbrett?«*

Im Wohnzimmer summte der alte Fernseher, gekauft zu ihrem ersten Hochzeitstag. Damals hatten sie im Geschäft gestritten – sie wollte ein kleineres Modell, er bestand auf dem *»repräsentativen«* Großbildschirm. Jetzt brummte das Gerät genauso monoton wie ihr Leben – gleichförmig, gewohnt, freudlos. Anna zupfte am Kragen ihres grauen Pullovers, der genauso farblos war wie der größte Teil ihres Kleiderschranks.

Vierzehn Jahre. Morgens Kaffee für ihn – Punkt sieben Uhr, ohne Zucker, mit einem Hauch Milch. Hemden – gebügelt bis sie knirschten. Socken – akkurat gefaltet. Eintopf – jeden Donnerstag, weil *»Tradition«*.

Sie erinnerte sich an ihr erstes Treffen auf einer Geburtstagsfeier gemeinsamer Freunde. Er war auf sie zugekommen, lächelnd: *»Das Mädchen im grünen Kleid, darf ich um einen Tanz bitten?«* Damals trug sie noch kräftige Farben und lachte laut, ohne sich zu zügeln.

*»Annika, hörst du mir zu?«* Thomas‘ Stimme riss sie zurück in die Gegenwart. *»Ich brauche Abstand. Zeit, um Klarheit zu gewinnen.«*

Sie nickte und musterte einen fast unsichtbaren Riss in der Tapete. Fünf Jahre wollten sie renovieren, doch Thomas fand immer Ausreden: kein Geld, keine Zeit, *»machen wir nach dem Urlaub«*.

*»Ich ziehe näher ins Zentrum«*, fuhr er fort, während er mit den Fingern auf den Tisch trommelte. *»Ich hole meine Sachen nach und nach ab. Vielleicht tut uns das gut?«*

*»Uns«*. Das Wort blieb ihr hängen. Immer *»wir«*, *»uns«*, doch die Entscheidungen traf er allein.

*»Gut«*, sagte sie mit merkwürdig fester Stimme.

*»Gut?«* Er runzelte die Stirn. Er hatte Tränen erwartet, Geschrei – alles außer dieser Gelassenheit. *»Einfach… gut?«*

*»Ja. Wann ziehst du aus?«*

Thomas zögerte, betrachtete sie mit ungewohnter Verwirrung. Dann zuckte er mit den Schultern:

*»Am Samstag. Der Makler hat schon ein paar Wohnungen parat.«*

*»Also hat er es lange geplant«*, dachte sie, aber sie schwieg.

Abends, als sie seine Sachen sortierte, stieß sie auf Splitter ihres gemeinsamen Lebens. Dazu gehörte die Krawatte zum zehnten Jahrestag, Manschettenknöpfe von seiner Mutter, Ordner mit Dokumenten – und ein altes Notizbuch. Darin eine Liste ihrer *»Mängel«*, in seiner ordentlichen Schrift: *»träumt zu viel, achtet nicht auf ihre Figur, kocht Fisch nicht richtig…«*

Vor Monaten war sie zufällig darauf gestoßen. Damals hatte sie die ganze Nacht geweint. Und am Morgen hatte sie sein Lieblingsomelett gemacht – *»knusprig«*, wie er es mochte.

Jetzt, als sie seine Hemden in Kartons faltete, spürte sie eine seltsame Erleichterung. Mit jedem Pullover, den sie wegpackte, wurde die Luft leichter, der Druck auf ihrer Brust geringer.

*»Ich komme Dienstag und hole meinen Mantel«*, warf Thomas hin, als er mit dem Koffer in der Tür stand. *»Und vergiss nicht, den Gummibaum zu gießen. Mama liebt ihn.«*

Sie nickte. Der Gummibaum – ein Geschenk der Schwiegermutter. Anna hasste ihn: riesig, mit klebrigen Blättern, immer voller Staub. Doch sie goss ihn, putzte ihn, rückte ihn zurecht – genau wie gewünscht. In diesem Moment, als Thomas seine Taschen checkte – Geldbeutel, Schlüssel, Handy –, dachte sie nur an die Pflanze.

*»Und… reg dich nicht auf«*, fügte er mit herablassendem Lächeln hinzu. *»Beschäftige dich doch. Vielleicht mit Yoga? Oder Stricken.«*

Die Tür fiel ins Schloss. Sein Aftershave hing noch in der Luft – scharf, mit Zedernnote. Dasselbe, das sie ihm jedes Jahr schenkte, weil *»warum wechseln, wenn es funktioniert?«*

Anna atmete langsam aus und lehnte sich an die Wand. Innen war sie leer. Kein Schmerz, keine Angst – nur Stille. Unglaubliche Stille.

Sie schaltete das Licht an und blieb vor dem Bücherregal stehen. In der Küche tickte die Uhr, doch jetzt klang es anders – nicht nervig, sondern beruhigend. *Ihre* Zeit.

Die erste Woche schlief sie einfach. Kam von der Arbeit, fiel aufs Sofa und schlief bis zum Morgen. Als hätte ihr Körper endlich die Erlaubnis bekommen, auszuruhen, dem Hamsterrad fremder Erwartungen zu entkommen.

Am Freitag rief ihre Freundin Lisa an:

*»Annika, wo steckst du? Lust auf Kaffee?«*

*»Ich kann nicht«*, begann sie, dann verstummte sie. Warum nicht? Niemand erwartete sie zu Hause mit Fragen wie *»Wo warst du so lange?«* oder *»Kaffee? Jetzt stinkst du wieder danach.«*

Eine Stunde später saß sie im Café, die Hände um eine Tasse Latte gewärmt. Lisa erzählte von ihrem neuen Job, während vor Anna ein Dessert thronte – cremig, mit Beeren, komplett unnütz nach Maßstäben *»gesunder Ernährung«*.

*»Du wirkst… müde. Aber irgendwie ruhig?«*, bemerkte Lisa.

Anna zuckte mit den Schultern: *»Thomas ist ausgezogen. Will eine Pause.«*

*»Und wie geht’s dir?«*

*»Seltsam. Wie in Schwerelosigkeit. Weißt du, wie im Flugzeug bei Turbulenzen – beängstigend, aber aufregend.«*

Zu Hause spürte sie die Stille – nicht bedrückend, sondern wohlig. Kein Grollen über ihre Einkäufe, kein Seufzen über den offenen Laptop, keine Aufforderung, *»von ihrem Tag zu erzählen«*, nur um sofort unterbrochen zu werden.

Am Samstag schlief sie bis elf. Nicht um sechs, weil *»ein ordentliches Frühstück«* auf dem Tisch stehen musste. Elf Uhr – weil sie es so wollte. Sie brühte billigen Kaffee auf, den Thomas als *»Plörre«* bezeichnete, und trat auf den Balkon.

Der Frühling hatte Hamburg erobert. Kinderlachen, bunte Jacken, Fahrräder. Irgendwo spielte jemand Gitarre.

Das Telefon klingelte – die Hausverwaltung:

*»Frau Meier? Sie haben die defekte Steckdose gemeldet. Der Elektriker kommt heute.«*

Früher hätte sie gesagt: *»Ich frage meinen Mann.«* Jetzt antwortete sie ohne zu zögern: *»Er kann kommen.«*

Der Handwerker, ein älterer Mann in abgetragener Jacke, fand schnell das Problem:

*»Die Leitungen sind hin. Muss erneuert werden.«*

*»Neu… verlegen?«*

Er sah sie erstaunt an: **»Ja, kein Problem, ich mach das jetzt.«*

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Neuer Blick auf ein Leben
Ohne Rücksicht auf die Vergangenheit