**Lisas Neubeginn**
Lisa stand am Fenster und blickte auf die regennassen Straßen von Leipzig. „Wir sollten eine Weile getrennt leben“, hallten die Worte ihres Mannes Thomas immer noch in ihren Ohren nach, wie ein fernes Donnergrollen. Auf der Fensterbank kühlte eine Tasse Pfefferminztee ab – schon die vierte an diesem Abend. Eine alte Gewohnheit, Tee zu kochen, wenn die Nerven blank lagen.
„Wir sollten eine Weile getrennt leben“, hatte er gesagt, als würde er über das Wetter oder die Nebenkosten sprechen. So beiläufig wie seine Bemerkungen: „Die Suppe ist versalzen“ oder „Wann räumst du endlich deine Zeitschriften vom Fensterbrett?“
Im Wohnzimmer brummte der alte Fernseher, den sie zu ihrem ersten Hochzeitstag gekauft hatten. Damals hatten sie sich im Geschäft gestritten – sie wollte ein kleineres Modell, er bestand auf dem „prestigeträchtigen“ Großbildschirm. Jetzt brummte der Fernseher nur noch, wie ihr Leben – monoton, gewohnt, freudlos. Lisa strich über den Kragen ihres grauen Pullovers, der so unscheinbar war wie der größte Teil ihres Kleiderschranks.
Vierzehn Jahre. Morgendlicher Kaffee für ihn – punkt sieben Uhr, ohne Zucker, mit einem Schuss Sahne. Hemden – akkurat gebügelt. Socken – ordentlich im Schubladenfach. Jeden Donnerstag Linseneintopf, weil „das Tradition ist“.
Sie erinnerte sich, wie sie sich auf einer Geburtstagsfeier gemeinsamer Freunde kennengelernt hatten. Er war auf sie zugekommen, lächelnd: „Das Mädchen im grünen Kleid, darf ich dich zum Tanz bitten?“ Damals trug sie noch knallige Farben und lachte laut, ohne sich zu zieren.
„Lisa, hörst du mir überhaupt zu?“ Thomas’ Stimme riss sie zurück in die Gegenwart. „Ich brauche Abstand. Zeit, um alles zu überdenken.“
Sie nickte und betrachtete einen kaum sichtbaren Riss in der Tapete. Fünf Jahre hatten sie davon geredet, eine Renovierung zu machen, doch Thomas hatte stets Ausreden parat: kein Geld, keine Zeit oder „lass uns das nach dem Urlaub machen“.
„Ich miete mir eine Wohnung in der Innenstadt“, fuhr er fort, mit den Fingern auf den Tisch trommelnd. „Ich hole meine Sachen nach und nach. Vielleicht tut uns das gut?“
„Wir“. Das Wort blieb ihr hängen. Immer „wir“, „uns“, aber die Entscheidungen traf er allein.
„Gut“, sagte sie mit erstaunlich ruhiger Stimme.
„Gut?“ Thomas runzelte die Stirn. Er hatte wohl Tränen erwartet, Geschrei – alles außer diesem. „Einfach… gut?“
„Ja.“ Sie trank einen Schluck des kalten Tees. „Wann ziehst du aus?“
Thomas zögerte, musterte sie mit ungewohntem Erstaunen. Dann zuckte er mit den Schultern.
„Am Samstag. Der Makler hat schon ein paar Optionen.“
„Also hat er es lange geplant“, dachte sie, schwieg aber.
Abends, als sie seine Sachen sortierte, stieß sie auf Fragmente ihres gemeinsamen Lebens. Da war die Krawatte zum zehnten Jubiläum, daneben Manschettenknöpfe von seiner Mutter, ein Ordner mit Dokumenten, ein alter Kalender. Darin – eine Liste ihrer „Macken“, in seiner akkuraten Handschrift: „träumt zu viel, kümmert sich nicht um ihre Figur, kocht Fisch schlecht…“
Die Liste war ihr vor Monaten zufällig in die Hände gefallen. Damals hatte sie die ganze Nacht geweint. Am Morgen hatte sie trotzdem sein Lieblingsomelett gemacht – „knusprig gebraten“.
Jetzt, als sie seine Hemden in Kartons packte, spürte sie seltsame Erleichterung. Als würde die Luft in der Wohnung mit jedem gefalteten Pullover klarer, die Enge in ihrer Brust leichter.
„Ich komm’ Dienstag vorbei und hol’ meinen Mantel“, warf Thomas hin, mit einem Koffer in der Tür. „Und vergiss nicht, den Gummibaum zu gießen. Mama mag ihn so gern.“
Sie nickte. Der Gummibaum – ein Geschenk der Schwiegermutter. Lisa hasste ihn: sperrig, mit klebrigen Blättern, die ständig Staub verloren. Doch sie goss ihn, trocknete die Blätter ab, rückte ihn zurecht – genau wie es die Schwiegermutter wollte. In diesem Moment, als Thomas seine Taschen durchsuchte – Geldbeutel, Schlüssel, Handy – dachte sie nur an den Gummibaum.
„Und… werd’ nicht traurig“, fügte er mit seinem typisch herablassenden Lächeln hinzu. „Beschäftige dich. Vielleicht meldest du dich zum Yoga an? Oder zum Stricken.“
Die Tür fiel ins Schloss. Im Flur hing noch sein Aftershave – scharf, mit Zedernholznote. Dasselbe, das sie ihm jedes Jahr schenkte, weil „wenn etwas funktioniert, warum ändern?“
Lisa atmete langsam aus und lehnte sich an die Wand. In ihr war Leere. Nicht schmerzhaft, nicht beängstigend – einfach leer. Und still. Unglaublich still.
Sie schaltete das Licht im Wohnzimmer an und blieb vor dem Bücherregal stehen. In der Küche tickte die Uhr, aber ihr Geräusch klang jetzt anders – nicht nervig, sondern einfach zeitmessend. *Ihre Zeit.*
Die erste Woche schlief Lisa einfach aus. Kam von der Arbeit, fiel auf das Sofa und schlief bis zum Morgen. Als hätte ihr Körper endlich die Erlaubnis bekommen, anzuhalten, aus dem ewigen Wettlauf um fremde Erwartungen auszusteigen.
Am Freitag rief ihre Freundin Anna an:
„Lisa, wo steckst du? Lust auf ein Café?“
„Kann nicht“, begann sie automatisch, dann verstummte sie. Warum eigentlich nicht? Niemand erwartete sie zu Hause mit Fragen wie „Wo warst du?“ oder „Schon wieder Kaffee? Jetzt riechst du danach.“
Eine Stunde später saß sie in einem gemütlichen Café, wärmte die Hände an einer Tasse Latte. Anna erzählte von ihrem neuen Job, während vor Lisa eine üppige Nachspeise stand – cremig, mit Beeren, völlig ungeeignet für „gesunde Ernährung“.
„Du wirkst… erschöpft“, bemerkte Anna. „Aber irgendwie ruhig?“
Lisa zuckte mit den Schultern.
„Thomas ist ausgezogen. Will eine Zeit lang getrennt leben.“
„Und wie geht’s dir?“
„Seltsam. Wie in der Schwerelosigkeit. Weißt du, wie im Flugzeug bei Turbulenzen – beängstigend und aufregend zugleich.“
Zu Hause spürte sie die Stille – nicht bedrückend, sondern behaglich. Niemand beschwerte sich über ihre Einkäufe, seufzte über den geöffneten Laptop, verlangte „erzähl von deinem Tag“, nur um mit eigenen Geschichten zu unterbrechen.
Am Samstag wachte sie um elf auf. Nicht um sechs, um ein „ordentliches Frühstück“ zu machen. Einfach um elf – weil sie es wollte. Sie kochte billigen Kaffee, den Thomas als „Plörre“ bezeichnet hatte, und trat auf den Balkon.
Der Frühling hatte Leipzig erobert. Der Hof war bunt von Kindern, Fahrrädern, Lachen. Irgendwo spielte jemand Gitarre.
Das Telefon klingelte – die Hausverwaltung.
„Frau Schneider? Sie hatten eine Meldung wegen der Küchensteckdose. Der Elektriker kann vorbeikommen.“
Früher hätte sie gesagt: „Ich frag’ meinen Mann.“ Jetzt antwortete sie ohne zu zögern:
„Kommen Sie.“
Der ältere Handwerker in seiner abgetragenen Jacke hatte das Problem schnell gelöst.
„Die Leitungen sind hin. Müssen erneuert werden.“
„Wie… erneuern?“
Er sah sie überrascht an.
„GanzUnd als sie am nächsten Morgen erwachte, wusste sie: Dieser Regen hatte alles Alte weggespült, und die Sonne, die jetzt durch die Wolken brach, gehörte nur ihr allein.